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Essen kann jeder

Essen kann jeder

Titel: Essen kann jeder
Autoren: Philipp Weber
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während des Tafelns die Nägel zu schneiden, sich so gierig auf das Essen zu stürzen, dass man sich dabei in die Finger beißt, zu schmatzen, zu rülpsen, zu furzen, sich ausgiebig nach Läusen zu kratzen, wie ein Schwein zu grunzen, sich in die Hand zu schnäuzen, während man die gemeinsame Schüssel nach saftigen Fleischbrocken durchsucht, in das Tischtuch zu rotzen, obwohl andere sich daran noch die Finger abwischen wollen, und so weiter. Diese und ähnliche Zustände beklagt Tannhäuser in seiner »Tischzucht« aus dem Jahre 1240. Von Beruf her Minnesänger, hatte er ein berufliches Interesse daran, dass ihm die Kundschaft nicht ständig in die Ode hineinrülpst.
    Der Akt der Nahrungsaufnahme wurde in den folgenden Jahrhunderten dem Prozess der Zivilisierung unterworfen. Das Essen wurde zum Ritual der Selbstdisziplinierung des Menschen: Hier unterwirft er sich gesellschaftlichen Normen, wenn auch nur sehr widerwillig. Das sieht man allein an der immensen Erziehungsarbeit, die man investieren muss, bis man sich nicht mehr für seine Brut in der Öffentlichkeit zu schämen braucht. Noch heute klingt mir meine Mutter im Ohr: Sitz gerade, sitz ruhig, sitz gescheit, hör auf zu pampen, zu stochern, zu knatschen, zu wippen, zu schaukeln, zu zappeln, schmatz nicht, schlürf nicht, schling nicht, nicht so hastig, so schnell, so gierig, nicht aus der Flasche, nimm ein Glas, Gabel links, Messer rechts, Löffel zum Mund, nicht Mund zum Löffel, Ellenbogen vom Tisch … Und natürlich der Klassiker: Du bleibst jetzt so lange sitzen, bis der Teller leer ist. Und das habe ich getan! Stunde um Stunde! Aber Sie glauben gar nicht, wie langsam Spinat verdunstet.
    Noch heute bin ich kein Freiherr von Knigge. Ich liebe eine gewisse Ungezwungenheit bei Tisch: Kleine Kleckse Soße auf der Tischdecke und dezente Geräusche des Wohlbehagens sind für mich Zeichen von Opulenz und Lebensfreude. Doch alles muss im Rahmen bleiben, die Einhaltung von gemeinsamen Tischregeln garantiert schließlich den Genuss aller Anwesenden beim Essen. Aber natürlich nur, wenn man vom selben Teil des Globus kommt: Gesellschaftliche Normen entstehen vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund. So ist die Regel, den Ellenbogen beim Essen nicht auf dem Tisch abzustützen, für einen Nomaden wie den Tuareg völlig unverständlich – er hat gar kei nen Tisch. Dieser Wüstenbewohner isst auf dem Boden. Was nicht heißt, dass es dafür keine Regeln gibt. So ist es furchtbar unhöflich, seinem Bodennachbarn beim Dinieren die Fußsohlen entgegenzustrecken. Bei uns wäre das kein Problem, sieht ja keiner! Außer Sie haben Ihre Füße auf dem Tisch, aber dann ist eh schon alles zu spät.
    Es ist wirklich interessant und erheiternd, wie durch andere Sitten und Gebräuche unsere deutschen Vorstellungen von Normalität infrage gestellt werden. Bei uns wäre es zum Beispiel vollkommen unmöglich, dass sich ein Gast beim Essen eine Zigarette anzündet. In China ist das Rauchen am Tisch durchaus erlaubt und gilt als appetitanregend. Zur Verteidigung der Chinesen sei gesagt, dass die asiatische Kultur höchsten Wert auf Gastfreundschaft legt. Es wäre undenkbar, dass ein kultivierter Chinese sich beim Hummeressen eine Kippe ansteckt, um nicht sofort seinem Tischnachbarn auch eine Zigarette anzubieten. Wenn dieser Gast aus dem arabischen Kulturkreis kommt, hat er ein Problem. Denn die arabische Vorstellung von Gastfreundschaft wird empfindlich verletzt, wenn vom Gastgeber angebotene Gaben abgewiesen werden. Der Gast aus Ägypten hätte in China also die Wahl zwischen gesellschaftlicher Äch tung und medizinischem Laster. Strenge Nichtraucher aus dem Nahen Osten sollten China als Reiseland daher besser mei den.
    Doch die chinesische Ansicht über Essen zu Tisch ist nun mal: Gut gehen lassen! Auch Schmatzen und Rülpsen sind erlaubt. Dagegen sind ihre japanischen Nachbarn schon etwas strenger: Es darf zwar geschlürft werden, aber nur die Suppe. Denn die Japaner sind der Ansicht, dass sich die Aromen durch geräusch volles Aufsaugen der Suppe am besten entfalten können. Da müssen Sie als Europäer leider durch, wobei es als sehr unhöflich gilt, sich beim Essen Ohrenstöpsel in die Lauscher zu stopfen. Denn gerade in Japan kann der ausländische Gast die Etikette durch Leichtfertigkeit schnell verletzen. So gilt es als unverzeihliche Entgleisung, seine Stäbchen in den Reis zu stecken. Dem liegt ein buddhistisches Bestattungsritual zugrunde: Auf diese Weise wird dem
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