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Essen kann jeder

Essen kann jeder

Titel: Essen kann jeder
Autoren: Philipp Weber
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meine arme Mutter denke. Die kann an Weihnachten Stunde um Stunde in der Küche stehen, schwitzen, schaffen, Geflügel waschen, ausnehmen, stopfen, salzen, braten, Kartoffeln schälen, häckseln, Knödel reiben, rollen, formen, Rotkraut raspeln, reiben, dünsten. Und dann ist die Gans endlich unter Blut, Schweiß und Tränen zu einem kulinarisch-ornithologischen Meisterwerk vervollkommnet – ich möchte sagen, auf die höchste Stufe ihres Gänsedaseins gebracht – und steht als mystische Verklärung eines Vogels auf dem Tisch.
    Und was dann? Schallt jetzt ein Hosianna zu Ehren ihres Schöpfers zum Himmel? Wird innegehalten, um die Köchin mit Lobpreisungen zu überschütten? Pustekuchen. Sobald der Topf die Tischplatte berührt, fällt die Familie Weber wie eine Rotte Wildschweine über die Schüsseln her und tilgt das Dargebrachte innerhalb von Sekunden von Gottes Erdboden. Ein Schwarm Piranhas würde diesen Weihnachtsbraten respektvoller be handeln, glauben Sie mir. Und wir reden hier nicht von einem fröhlichen Gelage. Nicht von einem wilden, bacchantischen Rausch. Nein, wir sprechen hier von hastigem Kauen, gierigem Schlingen und malmenden Mündern. Und von misstrauischen Blicken. Kain erschlug Abel wegen des Erbes. Und wenn mein Bruder, diese Natter, noch mal nach der letzten Keule schielt, kann ich für nichts mehr garantieren!
    Aber hastiges Essen ist gefährlich. Wird die Nahrung nicht genügend zerkleinert und mit Speichel vermengt, führt das zu Verdauungsproblemen und Magengeschwüren. Außerdem haben Wissenschaftler festgestellt, dass man durch schnelles Essen den Sättigungszustand später erreicht. Wer also hastig isst, isst mehr als derjenige, der sich beim Essen Zeit nimmt. Oder anders gesagt: Schnell essen macht dick. Außerdem, was ist das für ein Zeitgewinn, wenn man eine 5-Minuten-Terrine in fünf Sekunden hineinschüttet – und dann wegen Reizmagen eine Stunde auf dem Klo rumhängt? Hastiges Schlucken kann sogar noch schlimmer enden. Immer wieder rutschen allzu eiligen Zeitgenossen viel zu große Bissen in die Luftröhre und führen zum grausigen Erstickungsexitus. Der Volksmund spricht hier auch vom »Bockwurstbudentod«.
    Wie isst du?
    Die Art und Weise, wie wir essen, sagt viel über unser grundsätzliches Verhältnis zur Ernährung aus. Zum Beispiel über die Motivation, warum wir überhaupt essen. Seien wir ehrlich: Wir greifen doch nicht nur dann zur Gabel, wenn wir hungrig sind. Wir essen aus Frust, zum Spaß, zur Belohnung, aus Geselligkeit … und nicht selten aus purer Langeweile. Ich kenne Menschen, die wüssten überhaupt nicht, dass sie einen Kopf haben, wenn sie nicht ständig irgendetwas in sich hineinstopfen würden.
    Früher hat man morgens, mittags und abends gegessen. Dann hieß es, das Beste sind fünf kleine Mahlzeiten am Tag. Heute gilt offensichtlich die Lehre, dass der Mund praktisch gar nicht still stehen darf. Ich kaue, also bin ich. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wird heute genippt, genascht, geknabbert und gemümmelt. Alles wird heute immerfort und überall wild durcheinander gefuttert. Abends fachsimpelt man mit Kennermine beim Stammtisch über Transfettsäuren und »Keine-Kohlenhydrate-nach-sechs«-Theorien. Dabei weiß doch heute kaum noch einer, was er eigentlich den ganzen Tag an Fett, Zucker und Salz vernichtet. Hier mal eine Bratwurst, da mal ein Leberkäsweckle. Da mal Butterhörnchen, hier mal ein Käseeckchen.
    Das größte Unding ist übrigens, dass mittlerweile selbst im Laufen gegessen wird. Die Leute rennen durch die Straßen und stecken sich wie Schwertschlucker mit weit zurückgelegtem Nacken Pizzaecken in den Hals. Alles gibt es »to go«. Vom Kaffee über die Asia-Nudeln. Vom Frozen Joghurt bis zur Schupfnudel. Es gibt sogar »Suppe to go«. Suppe! Ein Gericht, das dazu geschaffen wurde, um es auf seinem Hintern hockend zu verzehren. Weil jedes Kind weiß, dass man alles vollsaut, wenn man mit seinem Eintopf durch die Wohnung hopst. Aber so sehen unsere Städte doch auch aus. Ständig kommen einem Zeitgenossen entgegen, die meterlange Spuren von Mayonnaise, Brotkrumen und Salatblättern hinter sich herziehen. Und wenn wir wirklich mal wieder beim Essen sitzen bleiben, dann in der Bahn. Wo auch nicht viel mehr Zeit für die Speise bleibt, weil der Zug zwar pünktlich ist, das Essen aber verspätet serviert wird und wir uns beim Einfahren in den Bahnhof zwei Kohlrouladen in den Rachen schieben müssen.
    Aber so ist es nun mal. Wir leben in mobilen
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