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Esel

Esel

Titel: Esel
Autoren: Michael Gantenberg
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glaub’ nicht, dass du Fieber hast.«
    Ich hätte nun selber messen können, vielleicht hätte sich ein Wert ergeben, der zumindest ein Indiz für eine erhöhte Temperatur gebracht hätte. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.
    »Okay, ja, ich habe kein Fieber, Karin.« Ich gab ihrem Namen einen anklagenden Unterton.
    »Mein Reden.«
    »Weißt du, was mich heute in der Klasse erwartet?«
    »Das, was dich jeden Montag erwartet, plus Katrin.«
    »Katja.«
    »Von mir aus.«
    »Bitte, Karin, kannst du nicht anrufen und sagen, dass ich krank bin.«
    »Warum?«
    Ich weiß nicht, warum sie es nicht einfach tat, ohne ständig Gegenfragen zu stellen. Wer Gegenfragen stellt, kann nicht antworten. Warum war sie nicht bereit, mit einem einzigen Anruf in unserem Sekretariat dafür zu sorgen, dass es mir besser ging? Sie hatte nichts zu verlieren und ich jede Menge zu gewinnen, einen freien Tag, ein wenig Abstand. Ja, es wäre eine egoistische Auszeit. Ich würde nicht mit ihr durch die Stadt wandeln können, weil man bei solchen Gelegenheiten immer erwischt wird. Von Eltern oder Schülern, die blaumachen. Die blaumachen dürfen, im Gegensatz zu ihren Lehrern, die diesen völlig idiotischen Beamteneid geschworen haben, der die Freiheitssehnsucht eines Menschen nicht kennt und nur die bedingungslose Treue zum Staate verlangt.
    »Und morgen?«
    »Wie, und morgen?«
    »Soll ich morgen auch anrufen und übermorgen und überübermorgen?«
    »Ich will nur warten, bis sich die Wogen ein wenig geglättet haben.«
    »Warum gehst du nicht einfach hin und entschuldigst dich bei Katrin?«
    »Katja«, verbesserte ich sie erneut, etwas leiser als zuvor.
    »Sag ihr, dass es dir leidtut, dass du es nicht so gemeint hast, und alles ist wieder gut.«
    »Ich habe jedes Wort so gemeint.«
    »Dann eben nicht.«
    »Karin, soll ich ernsthaft vor einem jungen Mädchen den Bückling machen, das mich vor der ganzen Klasse OPFER genannt hat?«
    »Was ist denn daran so schlimm?«
    »Opfer?«
    »Na und? Opfer! Ich kenne schlimmere Beleidigungen. Dass du dieses kleine Mädchen eine spätpubertierende, indolente, fette Kuh genannt hast, finde ich persönlich schlimmer.«
    »Das ist kein kleines Mädchen, das ist eine Zweizentnerbombe in giftgrünen Leggings. Und sie hat mich OPFER genannt – nicht EIN OPFER , nur OPFER ! Sie hat sich noch nicht mal die Mühe eines gescheiten Satzbaus gemacht.«
    »Björn, sie ist dreizehn.«
    »Das Thema Satzbau hatten die in dem Alter längst, sogar zweisprachig.«
    »Dreizehn!«, wiederholte Karin, etwas eindringlicher.
    »Keine Entschuldigung.«
    »Björn, du bist erwachsen.«
    »Und sie ist übergewichtig«, ergänzte ich völlig ohne Zusammenhang.
    »Das ist doch völlig egal.«
    »Ich will nur, dass du dir ein Bild von ihr machen kannst.«
    »Björn?«
    »Ja?«
    »Merkst du noch was?«
    »Was?«
    Karin schüttelte nur den Kopf.
    »Was soll ich merken?«
    »Manchmal denke ich, da liegt ein Fremder neben mir.« Karin verließ das Schlafzimmer und ließ mich allein.
    Ich zog mich an und musste davon ausgehen, dass ich gleich fieberfrei den direkten Kontakt mit Katja suchen würde.

9. Hier sind Menschen
    Keine Ahnung, wie ich es überlebt habe, aber Friedhelm und ich haben den Reißerhof erreicht, mit letzter Kraft.
    Die Schwellung ist ein bisschen zurückgegangen. Nicht genug, um sorgenfrei zu sein, aber genug, um zu gehen, ohne dass es würdelos aussieht oder wie bei einem übergewichtigen Walker, der seinen Sport mit den Vorbereitungen auf die Passionsspiele verwechselt.
    Wir hätten uns nicht so anstrengen müssen, denn der Hof scheint unbewohnt, obwohl er in meinen Unterlagen als einzige Anlaufstation für Eselreisende in Kleinzedlitz ausgewiesen ist. Doch was interessiert es einen Uckermärker – oder heißt das Uckermarker, das muss ich noch herausfinden –, ob jemand bei ihm Asyl sucht, nur weil es ein Reiseveranstalter in seinem Angebot so vorgesehen hat.
    Friedhelm kennt sich hier aus. Natürlich, Friedhelm ist wie ein altes Zirkuspferd, immer die gleiche Runde. Jeder Eselreisennovize läuft den Reißerhof am ersten Tag an, und jeder wird sich spätestens hier die Frage stellen, was das alles soll und wann der letzte Zug von Prenzlau nach Berlin fährt oder der Bus. Beide Verbindungen scheiden jetzt aus. Wenn die Sonne versinkt, flüchtet sich auch der öffentliche Nahverkehr in Richtung Berlin in schwarze Löcher.
    »Hallo, ist hier jemand?«
    Friedhelm hebt den Kopf und schaut mich an.
    »Außer
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