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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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Instrument zum Weiterkommen in einer Welt herab, in der nur die biologisch Kräftigsten überleben. Dies mag erklären, warum der Cure d’Ars zu sagen pflegte, daß Gott ihm an den Tagen, an denen er die Möglichkeit hatte, sich ohne Gnade selbst zu geißeln, nichts verweigere. Mit anderen Worten, wenn Reue, Ekel vor der eigenen Natur und Angst vor der Hölle Adrenalin freisetzen, wenn Wunden, die man sich selbst zugefügt hat, Adrenalin und Histamin freisetzen, und wenn diese Wunden, weil sie sich entzünden, dekomponiertes Protein ins Blut schicken, wird die Funktion des zerebralen Reduktionsventils herabgesetzt, und in das Bewußtsein des Asketen dringen unbekannte Aspekte des entfesselten Geistes ein, darunter Psi-Phänomene, Visionen und, falls er philosophisch und ethisch darauf vorbereitet ist, sogar auch mystische Erfahrungen.
    Reue, Ekel vor der eigenen Natur und Angst vor der Hölle. Fasten und Beten. Peitschen und Ketten. Schwärende Wunden. Jeder nach seinem Geschmack, so scheint es, jedem sein ganz persönlicher Trip. Während die Gabe in mir nachläßt, während diese heilige Kraft stirbt, spiele ich mit dem Gedanken, sie durch künstliche Mittel zu neuem Leben zu erwecken. Acid, Meskalin, Psilocybin? Ich glaube, daß ich so etwas noch einmal erleben möchte. Kasteiung des Fleisches? Das scheint mir ebenso überholt zu sein wie die Kreuzfahrerei oder Gamaschen: Dinge, die in das Jahr 1976 einfach nicht passen. Daß ich das Geißeln aushalten würde, möchte ich außerdem bezweifeln. Also, was bleibt? Fasten und Beten? Fasten könnte ich wahrscheinlich. Aber beten? Zu wem? Ich würde mir idiotisch vorkommen. Lieber Gott, gib mir Gabe zurück. Lieber Moses, bitte hilf mir. Scheiß drauf! Juden bitten nicht um Gefälligkeiten, weil sie wissen, daß doch niemand hört. Also, was bleibt? Reue, Ekel vor der eigenen Natur und Angst vor der Hölle? Diese drei habe ich bereits, und sie haben mir bisher auch nicht geholfen. Ich muß eine andere Möglichkeit finden, meine Gabe wiederzubeleben. Irgend etwas Neues erfinden. Geißelung des Geistes, vielleicht? Ja. Das werde ich versuchen. Ich werde also die metaphorische Peitsche schwingen und es mir tüchtig geben. Geißelung des schmerzenden, schwächer werdenden, bebenden, sich auflösenden Verstandes. Dieses verräterischen, verhaßten Verstandes.
6
    Aber warum will David Selig, daß seine Gabe wiederaufersteht? Warum läßt er sie nicht ruhen? Er hat sie doch immer nur als Fluch betrachtet, nicht wahr? Weil sie ihn von seinen Mitmenschen trennte und ihn zu einem liebeleeren Leben verurteilte. Also laß sie doch, David! Laß sie sterben. Laß sie sterben. Andererseits – was bist du ohne deine Gabe? Ohne jene unzuverlässige, unberechenbare, unbefriedigende Methode, Kontakt mit den anderen aufzunehmen? Wie willst du ohne sie mit ihnen überhaupt in Berührung kommen? Deine Gabe verbindet dich, in guten und in schlechten Zeiten, mit der Menschheit, sie ist das einzige Band, das du besitzt: Du kannst es nicht ertragen, sie aufzugeben. Leugne es nicht! Du liebst sie und du haßt sie, deine Gabe. Trotz allem, was sie dir angetan hat, fürchtest du, sie zu verlieren. Du wirst dich an sie klammern bis zuletzt, obwohl du weißt, daß es hoffnungslos ist. Also kämpfe! Lies noch einmal Huxley. Versuch’s mit Acid, wenn du das wagst. Versuch’s mit der Geißel. Versuch es wenigstens mit Fasten. Also gut, faste ich. Ich werde auf das Chow-mein verzichten. Ich werde auf die Frühlingsrolle verzichten. Ich werde ein neues Blatt in die Schreibmaschine spannen und über Odysseus als Symbol der menschlichen Gesellschaft nachdenken.
7
    Horch, das silbrige Läuten des Telefons! Die Stunde ist spät. Wer mag das sein? Aldous Huxley aus dem Grab, der mir Mut zusprechen will? Dr. Hittner mit einigen überaus wichtigen Fragen über das Pipimachen? Toni, die mir mitteilen will, daß sie zufällig in der Nähe ist, tausend Mikros Acid hat und damit zu mir raufkommen will? Ja. Ja. Hilflos starre ich auf das Telefon. Selbst auf dem Gipfel ihrer Kraft war meine Gabe nicht der Aufgabe gewachsen, in das Bewußtsein der American Telephone & Telegraph Company einzudringen. Seufzend nehme ich beim fünften Läuten den Hörer ab und vernehme den weichen, tiefen Alt meiner Schwester Judith.
    »Störe ich?« Eine typische Judith-Einleitung.
    »Nur einen ruhigen Abend zu Hause. Ich mache mal wieder den Ghostwriter. Einen Aufsatz über die Odyssee. Hast du vielleicht ein paar gute Ideen,
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