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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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Vergangenen Monat habe ich Schluß gemacht. Verliebt war ich bestimmt nicht in ihn. Ich glaube, ich mochte ihn nicht mal besonders.«
    »Aber du hast lange genug mit ihm gespielt, bis er dir die Europareise besorgen konnte.«
    »Das hat ihn keinen Penny gekostet! Ich mußte mit ihm ins Bett gehen; er brauchte bloß ein Formular auszufüllen. Was willst du überhaupt damit sagen? Daß ich eine Hure bin?«
    »Jude…«
    »Okay, bin ich eben eine Hute. Aber wenigstens bleibe ich jetzt eine Zeitlang anständig. Viel frischer Orangensaft und eine Menge gute Literatur. Weißt du, was ich im Augenblick lese? Proust – kannst du dir das vorstellen? Swanns Way habe ich gerade ausgelesen, und morgen…«
    »Ich muß noch arbeiten, Judith!«
    »Entschuldige. Ich wollte dich nicht aufhalten. Kommst du diese Woche zum Abendessen?«
    »Ich werd’s mir noch überlegen. Auf jeden Fall sage ich dir Bescheid.«
    »Warum haßt du mich so sehr, Dav?«
    »Ich hasse dich nicht. Aber ich glaube, wir wollten auflegen.«
    »Vergiß nicht, mich anzurufen!« beschwört sie mich, nach dem letzten Strohhalm greifend.
8
    Jetzt sollte ich, glaube ich, von Toni berichten.
    Mit Toni lebte ich im Sommer vor acht Jahren sieben Wochen lang zusammen. Das ist länger als ich jemals mit einem anderen Menschen zusammengelebt habe – ausgenommen natürlich Eltern und Schwester, die ich verließ, sobald es sich mit Anstand arrangieren ließ, und mich selbst, den ich niemals verlassen kann. Toni war eine der beiden großen Lieben in meinem Leben. Die andere war Kitty, aber von Kitty werde ich später berichten.
    Ob ich Toni noch rekonstruieren kann? Versuchen wir ein paar kurze Striche. Sie war damals vierundzwanzig. Ein großes Mädchen, wie ein Fohlen, fünf Fuß sechs, fünf Fuß sieben. Schlank. Flink und linkisch, beides zusammen. Lange Beine, lange Arme, dünne Handgelenke, dünne Fesseln. Glänzend schwarzes, langes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Warme, lebhafte braune Augen, aufmerksam und immer fragend. Ein geistreiches, gescheites junges Mädchen, eigentlich nicht richtig gebildet, aber außergewöhnlich klug. Das Gesicht alles andere als hübsch im konventionellen Sinn – zuviel Mund, zuviel Nase, zu hohe Wangenknochen –, in der Wirkung jedoch so sexy und attraktiv, daß sich alle nach ihr umdrehen, wenn sie einen Raum betritt. Volle, schwere Brüste. Ich mag vollbusige Frauen. Ich brauche oft einen weichen Platz, an dem ich meinen müden Kopf bergen kann. So oft so müde! Meine Mutter war flachbusig, kein weiches Ruhekissen. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte mich nicht stillen können. (Werde ich ihr je verzeihen, daß sie mich aus ihrem Leib verstoßen hat? Na komm schon, Selig, zeig wenigstens ein bißchen Achtung vor deiner Mutter!)
    Ich habe niemals Tonis Gedanken erforscht, das heißt, nur zweimal: einmal an dem Tag, an dem ich sie kennenlernte, und einmal zwei Wochen später. Ja doch, und noch ein drittes Mal an dem Tag, als wir auseinandergingen. Dieses dritte Mal war reiner, fürchterlicher Zufall. Auch das zweite Mal war mehr oder weniger ein Zufall, aber doch eigentlich nicht ganz. Nur das erste Mal war ein bewußtes Eindringen. Nachdem mir klar geworden war, daß ich sie liebte, hütete ich mich, in ihrem Kopf zu spionieren. Der Lauscher an der Wand hört seine eig’ne Schand. Eine Lektion, die ich schon sehr früh gelernt habe. Außerdem wollte ich nicht, daß Toni etwas von meiner Gabe ahnte. Von meinem Fluch. Ich fürchtete, das könnte sie vertreiben.
    In jenem Sommer arbeitete ich für 85 Dollar die Woche als Rechercheur für einen bekannten Schriftsteller, der ein dickes Buch über die politischen Machenschaften verfaßte, die zur Gründung des Staates Israel geführt haben. Acht Stunden pro Tag durchstöberte ich in den Kellern der Bibliothek der Columbia University für ihn die alten Zeitungen. Toni war Lektoratsassistentin bei dem Verlag, der sein Buch herausbrachte. Ich lernte sie eines Nachmittags im Spätfrühling in seiner Luxuswohnung an der East End Avenue kennen, als ich ihm einen Packen Notizen über Harry Trumans Wahlreden im Jahre 1948 ablieferte. Toni war zufällig ebenfalls da, um einige Kürzungen der ersten Kapitel mit ihm zu besprechen. Ihre Schönheit erregte mich. Seit Monaten hatte ich keine Frau mehr gehabt. Ich vermutete automatisch, daß sie die Freundin des Schriftstellers war: In gewissen höheren Kreisen des Literaturgeschäfts ist es, wie man mir sagte, gang und gäbe, mit
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