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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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doppelte Ausstrahlung unterscheiden: das quecksilbrige Herumhuschen ihrer seichten, sinnesbetonten Gedanken und das verschwommene, undeutliche Dahindämmern des etwa sechs Monate alten Fötus in ihrem prall gewölbten Bauch. Sie hat ein flaches Gesicht mit kleinen, glänzenden Augen und schmalem, verkniffenem Mund. Ihre Hüften sind breit. An ihren Daumen klammert sich ein ungewaschenes, vielleicht zweijähriges Mädchen. Das Kind kichert freundlich zu mir herauf, die Frau wirft mir ein kurzes, mißtrauisches Lächeln zu.
    Die beiden nehmen mit dem Rücken zu mir Aufstellung. Lastendes Schweigen. Erdgeschoß. Rasch trete ich vor, um ihr die Tür aufzuhalten. Die liebliche, phlegmatische, schwangere Chiquita watschelt an mir vorbei, ohne eine Miene zu verziehen.
    Und jetzt, hoppla-hopp zur Subway, einen großen Häuserblock entfernt. Hier, weit im nördlichen Teil von Manhattan, verlaufen die Gleise hoch über der Straße. Ich sprinte die knarrende, abgewetzte Treppe hinauf und erreiche die Plattform der Haltestelle, ohne im geringsten schneller zu atmen. Wahrscheinlich der Lohn meines gesunden Lebens. Einfaches Essen, kein Tabak, nicht viel Alkohol, kein speed, acid oder Mescalin. Der Bahnhof ist um diese Zeit praktisch menschenleer. Kurz darauf jedoch höre ich das Singen heranrasender Räder, Metall auf Metall, und empfange gleichzeitig den heftigen Anprall einer Phalanx von Gedankenfolgen, die mich von Norden her überfallen, alle zusammengepfercht in die fünf oder sechs Wagen des näherkommenden Zuges. Diese eng gedrängte Herde von Seelen brandet mitleidslos gegen mich an. Sie bebt wie eine gallertartige Planktonmasse, brutal im Netz eines Ozeanografen zusammengepreßt und so einen einzigen, komplexen Organismus bildend, in dem die einzelnen Identitäten untergehen. Erst als der Zug in die Station einfährt, kann ich separate Persönlichkeitsfetzen wahrnehmen: ein Keuchen heftigen Verlangens, ein Knurren des Hasses, einen Stich des Bedauerns, ein lautloses, inneres Vorsichhin-Murmeln – bruchstückhafte Impressionen, die sich von dem wirren Durcheinander abheben wie Melodienfragmente von dem verschwommenen Orchesterwischwasch einer Mahlersymphonie. Meine Gabe manifestiert sich heute mit trügerischer Kraft. Ich empfange sehr viel. Soviel wie schon seit Wochen nicht mehr. Bestimmt hat die geringe Luftfeuchtigkeit damit zu tun. Aber ich lasse mich nicht zu dem Trugschluß hinreißen, das Nachlassen meiner Fähigkeit habe aufgehört. Als mir allmählich die Haare ausfielen, gab es auch eine Zeit des Glücks, als der Erosionsprozeß stillzustehen, ja sich sogar umzukehren schien, als neuer, dunkler Flaum meine kahle Stirn zu zieren begann. Nach einem anfänglichen Hoffnungsschimmer kehrte jedoch meine Vernunft zurück: Hier handelte es sich nicht um eine wunderbare Aufforstung, sondern lediglich um eine Laune der Hormone, um eine vorübergehende Unterbrechung des Verfalls, der trotz allem nicht aufzuhalten war. Und genauso ist es hier. Wenn man weiß, daß in einem etwas stirbt, lernt man, dem zufälligen Aufblühen während einiger flüchtiger Augenblicke nicht allzu großes Vertrauen zu schenken. Heute mag meine Gabe stark sein, morgen höre ich vielleicht schon wieder nichts als fernes, nicht zu enträtselndes Gemurmel.
    Ich finde einen Eckplatz im zweiten Wagen, schlage mein Buch auf und mache mich für die Fahrt bereit. Ich lese wieder einmal Becketts: Malone stirbt; es paßt wunderbar zu meiner Stimmung, die, wie Sie längst gemerkt haben werden, von Selbstmitleid beherrscht wird. Meine Zeit ist begrenzt. Denn einst, an einem schönen Tag, wenn die Natur ganz Lächeln ist und Leuchten, läßt die Qual ihre schwarzen unvergeßlichen Kohorten los und wischt das Blau hinweg für immer. Meine Situation ist wirklich delikat. Wie zerbrechlich alles ist, wie folgenschwer. Ich drohe es durch Furcht zu verlieren, die Furcht, wieder in den alten Irrtum zu verfallen, Furcht, nicht rechtzeitig fertig zu werden, Furcht, es zum letztenmal, in einem letzten Ausgießen von Schmerz, Impotenz und Haß zu vergeuden. Es gibt der Formen viele, in denen das Unveränderliche Linderung sucht von seiner Formlosigkeit. O ja, der gute Samuel hat immer ein Wort trostlosen Trostes für uns bereit.
    Irgendwo in der Nähe der 180th Street blicke ich auf und sehe schräg gegenüber ein junges Mädchen sitzen, das mich eindeutig beobachtet. Sie kann kaum über zwanzig sein, ist blaß, aber recht attraktiv, mit langen Beinen, hübschem Busen
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