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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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wahrscheinlich die erschreckendste Einzelsequenz an Kafkas Gesamtwerk, in der K zu verstehen gegeben wird, daß er schuldig ist und niemals freigesprochen werden kann; das folgende Kapitel beschreibt Ks Hinrichtung und ist nur noch ein antiklimaktischer Appendix. Das Schloß, nicht so vollständig wie Der Prozeß, enthält kein Gegenstück zur Domszene (vielleicht gelang es Kafka nicht, eine passende zu erfinden?) und ist künstlerisch daher weniger befriedigend als der kürzere, aber intensivere und straffer konstruierte Prozeß.
    Trotz ihrer oberflächlichen Kunstlosigkeit scheinen beide Romane auf der fundamentalen dreiteiligen Struktur des Tragödienrhythmus zu basieren, der von dem Kritiker Kenneth Burke einmal als ›Zielsetzung, Leiden, Erkenntnis‹ beschrieben wurde. Der Prozeß hält sich an dieses Schema mit mehr Erfolg als das unvollendete Schloß; die Zielsetzung, nämlich die Gnade, wird mittels eines nicht weniger qualvollen Leidens demonstriert, wie andere Romanhelden es durchmachen müssen. Zuletzt, wenn Joseph K. seinen Trotz, sein selbstbewußtes Auftreten endlich aufgegeben hat und nur noch angstvolldemütig bereit ist, vor der Macht des Gerichts zu kapitulieren, ist der Zeitpunkt für die Erkenntnis gekommen.
    Der Mittelsmann, der ihn an den Schauplatz des Handlungshöhepunktes führt, ist eine geradezu klassisch-kafkaeske Figur: ein geheimnisvoller, italienischer Kollege, der zum erstenmal in der Stadt war und einflußreiche Verbindungen hatte, die ihn der Bank wichtig, erscheinen ließen’. Hier wiederholt sich das Thema, das sich in allen Werken Kafkas findet, die Unmöglichkeit menschlicher Kommunikation: Obwohl Joseph zur Vorbereitung auf diesen Besuch die halbe Nacht hindurch Italienisch gelernt hat und infolgedessen todmüde ist, spricht der Fremde einen unbekannten Dialekt des Südens, den Joseph K. nicht verstehen kann. Dann – Gipfel aller Ironie – wechselt der Fremde zum Französischen über, doch sein Französisch ist ebenso schwer verständlich und sein buschiger Schnurrbart verhindert, daß Joseph von seinen Lippen ablesen kann.
    Sobald Joseph K. den Dom erreicht, den er dem Italiener zeigen soll (der natürlich nicht erscheint), steigert sich die Spannung. Joseph wandert durch die Kirche, die leer, dunkel, kalt und nur von in der Ferne flackernden Kerzen beleuchtet ist, während es draußen unerklärlicherweise sehr schnell Nacht wird. Dann spricht ihn der Priester an und erzählt die Parabel vom Türhüter. Erst wenn diese Erzählung beendet ist, wird uns klar, daß wir sie überhaupt nicht verstanden haben, denn statt schlicht und einfach zu sein, wie es uns zunächst vorkam, entpuppt sie sich als äußerst schwierig und komplex. Joseph K. und der Priester diskutieren lange über das Gleichnis. Ganz allmählich werden uns die Implikationen klar und sowohl wir als auch Joseph K. müssen erkennen, daß das Licht, das durch die Tür auf das Gesetz hereinfällt, für ihn erst sichtbar wird, wenn es zu spät ist.
    Strukturell gesehen endet der Roman an diesem Punkt. Joseph K. ist zu der Erkenntnis gekommen, daß ein Freispruch unmöglich ist; seine Schuld ist erwiesen, und Gnade wird ihm noch nicht zuteil. Seine Suche ist beendet. Das letzte Stadium des Tragödienrhythmus, die Erkenntnis, die das Leiden beendet, ist erreicht.
    Wir wissen, daß Kafka weitere Kapitel plante, die Joseph Ks Prozeß durch weitere Stadien verfolgen und mit seiner Hinrichtung enden sollten. Kafkas Biograph Max Brod behauptet, das Buch hätte endlos weitergehen können. Damit hat er natürlich recht; es liegt im Wesen von Joseph Ks Schuld, daß er das Oberste Gericht niemals erreicht, genau wie der andere K endlos weiterwandern kann, ohne das Schloß je zu erreichen. Strukturell gesehen endet der Roman jedoch im Dom; was Kafka noch hatte hinzufügen wollen, hätte an Josephs Selbsterkenntnis nichts mehr geändert. Die Domszene zeigt uns, was wir schon auf Seite eins wußten: daß es keinen Freispruch gibt. Mit dieser Erkenntnis schließt die Handlung.
    Das Schloß ist viel länger und viel lockerer konstruiert, aber es fehlt ihm die Kraft, die dem Prozeß innewohnt. Es ist weitschweifig. Das Leiden des K ist weit weniger deutlich definiert, und K ist ein weniger konsistenter Charakter, psychologisch nicht so interessant wie im Prozeß. Während er im Prozeß, als er die Gefahr erkennt, seinen Fall selber in die Hand nimmt, wird er im Schloß sehr schnell zum Opfer der Bürokratie. Im Prozeß verläuft die
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