Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
Dummheiten machen würdest, wären die Leute vielleicht netter zu dir. Möchtest du nicht, daß die Leute nett zu dir sind?«
    »Das ist mir gleich. Ich brauche sie nicht.«
    »Jeder Mensch braucht Freunde, David.«
    »Ich habe Freunde.«
    »Mrs. Fleischer sagt, daß du nur ganz wenige hast, und daß du sie häufig schlägst. Warum schlägst du deine Freunde?«
    »Weil ich sie nicht mag. Weil sie dämlich sind.«
    »Wenn du das meinst, dann sind es keine richtigen Freunde.«
    Achselzuckend entgegnete David: »Ich komme sehr gut ohne sie aus. Ich bin eben gern allein.«
    »Fühlst du dich zu Hause wohl?«
    »Glaube schon.«
    »Hast du Daddy und Mommy lieb?«
    Pause. Die Gedanken des Doktors strahlten große Gespanntheit aus. Also eine wichtige Frage.
    Gib ihm die richtige Antwort, David. Gib ihm die Antwort, die er will.
    »Ja«, sagte David.
    »Wünschst du dir ein Brüderchen oder Schwesterchen?« Diesmal kein Zögern. »Nein.«
    »Wirklich nicht? Gefällt es dir, ganz allein zu sein?« David nickte. »Am Nachmittag, da ist es immer am schönsten. Wenn ich aus der Schule komme und niemand zu Hause ist. Bekomme ich denn ein Brüderchen oder Schwesterchen?«
    Der Doktor lachte. »Das weiß ich wirklich nicht, David. Das müssen deine Eltern entscheiden, nicht wahr?«
    »Aber Sie sagen ihnen doch nicht, daß sie mir eins schenken sollen, nicht wahr? Ich meine, Sie sagen bestimmt nicht, daß es gut für mich wäre, eins zu haben. Denn dann würden sie mir sofort eins schenken, und ich will doch nicht, daß…« Jetzt habe ich mich verplappert, merkte David.
    »Wieso glaubst du, daß ich deinen Eltern sagen würde, es wäre gut für dich, ein Brüderchen oder Schwesterchen zu haben?« erkundigte sich der Doktor ruhig und diesmal ganz ohne zu lächeln.
    »Ich weiß nicht. Das war nur einfach so ’ne Idee.« Die ich in deinem Kopf gefunden habe, mein Lieber. Und jetzt will ich endlich hier raus. Ich habe keine Lust mehr, mit dir zu reden. »He, Doktor, Sie heißen doch gar nicht Hittner, nicht wahr? Hittner mit ›n‹? Ich wette, ich weiß, wie Sie richtig heißen. Heil Hitler! «
3
    Ich konnte nie anderen meine Gedanken übertragen. Selbst als meine Fähigkeit am ausgeprägtesten war, konnte ich nicht senden. Ich konnte immer nur empfangen. Vielleicht gibt es Leute, die diese Fähigkeit besitzen, die ihre Gedanken sogar an diejenigen übertragen können, die nicht die Gabe des Empfanges haben, aber ich gehöre nicht zu ihnen. So war ich also dazu verdammt, das größte Ekel zu sein, was die menschliche Gesellschaft hervorbringen kann: ein Lauscher, ein Voyeur. Ein altes Sprichwort sagt: Der Lauscher an der Wand hört seine eig’ne Schand. Ja. Damals, als mir besonders daran gelegen war, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, gab ich mir so große Mühe, ihnen meine Gedanken aufzuzwingen, daß ich vor Anstrengung in Schweiß ausbrach. Ich saß zum Beispiel im Klassenzimmer, starrte auf den Hinterkopf eines der Mädchen und dachte konzentriert: Hallo, Annie, hier spricht David Selig, hörst du mich? Hörst du mich? Ich liebe dich, Annie. Ende. Ende und aus. Aber Annie hörte mich nie, und ihre Gedankenströme rollten dahin wie ein träger Fluß, ohne sich von David Selig stören zu lassen.
    Ich habe also keine Möglichkeit, meine Gedanken zu senden, ich kann nur in den Gedanken anderer spionieren. Die Art und Weise, wie meine Gabe sich manifestiert, hat immer schon sehr stark variiert. Ich konnte sie nie bewußt kontrollieren, konnte höchstens die Intensität des Inputs abschwächen und gewisse Feineinstellungen vornehmen; davon abgesehen mußte ich nehmen, was auf mich zukam. Meist empfing ich die oberflächlichen Gedanken eines Menschen, seine gedankliche Vorformulierung der Dinge, die er zu sagen beabsichtigte. Die hörte ich dann ganz deutlich, wie im Gespräch, genauso, als hätte er sie gesagt, nur in einem anderen Ton, einem Ton, der eindeutig nicht von seinem Stimmapparat produziert wurde. Ich wüßte nicht, daß ich jemals gesprochene Kommunikationen mit den mentalen verwechselt hätte, nicht einmal in meiner Kindheit. Diese Gabe, die oberflächlichen Gedanken zu lesen, ist eigentlich immer gleich stark gewesen: Ich weiß heute noch fast immer im voraus, was der andere sagen will, vor allem, wenn dieser andere die Angewohnheit hat, sich vorher zurechtzulegen, was er sagen will.
    Auch konnte ich – und kann es in gewissem Umfang noch – unmittelbar bevorstehende Absichten voraussehen, etwa den Entschluß,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher