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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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eine rechte Gerade am Kinn zu landen. Die Art, wie ich diese Dinge erfasse, variiert. Manchmal empfange ich einen zusammenhängenden Gedanken: Ich werde jetzt eine rechte Gerade an seinem Kinn landen. Manchmal, wenn meine Gabe an dem betreffenden Tag in die tieferen Regionen hinabreicht, empfange ich wohl auch einfach eine Reihe nicht-verbaler Befehle an die Muskeln, die innerhalb eines Sekundenbruchteils zu dem Ergebnis führen, daß der rechte Arm eine Gerade zum Kinn ausführt. Man könnte es als Körpersprache auf telepathischer Wellenlänge bezeichnen.
    Eine andere Variation meiner Gabe, die aber äußerst unbeständig war, ist das Einstimmen auf die tiefsten Schichten des Bewußtseins – auf die Seele, wenn man will. Wo das Bewußtsein in einer dicken Brühe unbestimmter, unbewußter Phänomene ruht. Hier liegen Hoffnungen, Ängste, Wahrnehmungen, Ziele, Leidenschaften, Erinnerungen, philosophische Standpunkte, moralische Auffassungen, Sehnsüchte, Sorgen, das ganze Sammelsurium von Ereignissen und Ansichten begraben, die das Ego des Menschen ausmachen. Gewöhnlich sickert einiges davon sogar dann zu mir durch, wenn nur ein oberflächlicher mentaler Kontakt besteht: Dabei empfange ich unwillkürlich gewisse Informationen über die Beschaffenheit der Seele. Gelegentlich aber – heutzutage sehr, sehr selten – schlage ich meine Fänge in das Eigentliche, den ganzen Menschen. Das ist Ekstase! Das ist ein elektrisierender Kontakt! Verbunden natürlich immer mit einem gewissen Schuldbewußtsein wegen der Absolutheit meines Voyeurismus: Kann man die Lauscherei gründlicher betreiben? Übrigens, die Seele spricht eine Universalsprache. Wenn ich die Gedanken von Mrs. Esperanza Dominguez etwa belausche und höre nur Spanisch, dann weiß ich keineswegs, was sie denkt, denn Spanisch verstehe ich nur sehr schlecht. Dringe ich aber in die Tiefen ihrer Seele vor, begreife ich alles bis ins kleinste. Die Gedanken drücken sich auf Spanisch, Basque, Ungarisch oder Finnisch aus, die Seele aber denkt in einer sprachenlosen Sprache und ist somit offen für jeden neugierigen Eindringling, der ihre Geheimnisse ausspähen will. Ist aber schließlich auch egal. Meine Gabe verläßt mich ohnehin.
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    Paul F. Bruno
Lit. 18, Prof. Schmitz
15. Oktober 1976
    Kafkas Romane
    In der Alptraumwelt von Kafkas Romanen Der Prozeß und Das Schloß ist nur eine Tatsache gewiß: daß die Zentralfigur, bezeichnenderweise unter dem Buchstaben K bekannt, der Frustration entgegengeht. Alles andere ist traumhaft und ungewiß; in Wohnungen tauchen Gerichtssäle auf, geheimnisvolle Wärter verschlingen anderer Leute Frühstück, ein Mann, den man für Sordini hält, ist in Wirklichkeit Sortini. Die zentrale Tatsache aber steht von vornherein fest: K wird niemals Gnade zuteil werden.
    Die beiden Romane haben dasselbe Thema und annähernd die gleiche Grundstruktur. In beiden Romanen sucht K Gnade und muß schließlich erkennen, daß sie ihm vorenthalten wird. (Das Schloß ist zwar unvollendet, der Ausgang aber eindeutig.) Kafka führt seine Helden auf entgegengesetzter Manier in die Handlungssituation ein: Im Prozeß bleibt Joseph K. passiv, bis er durch das unerwartete Eintreffen zweier Wärter zur Aktion gezwungen wird; im Schloß wird K zunächst als aktiver Mensch gezeigt, der sich aus eigenem Antrieb bemüht, das geheimnisvolle Schloß zu erreichen. Ursprünglich war er natürlich vom Schloß herbestellt worden; die Aktion ging nicht von ihm selbst aus, und so beginnt er eigentlich als ebenso passive Figur wie Joseph K. Der Unterschied liegt nur darin, daß Der Prozeß an einem früheren Punkt im Zeitablauf der Handlung einsetzt, eigentlich sogar am frühesten Punkt. Das Schloß dagegen hält sich enger an die uralte Regel, daß man in medias res gehen soll; daher ist K bereits herbefohlen worden und versucht nunmehr, das Schloß zu erreichen.
    Der Anfang beider Romane ist lebhaft. Joseph K. wird schon im ersten Satz verhaftet, sein Gegenstück K trifft auf der ersten Seite an der, wie er glaubt, letzten Station vor dem Erreichen des Schlosses ein. Von da an mühen sich beide K vergeblich, ihr Ziel zu erreichen (im Schloß den Schloßberg zu erklimmen, im Prozeß zunächst, das Wesen seiner Schuld zu begreifen und dann, als dieses nicht gelingt, freigesprochen zu werden, auch ohne zu begreifen). Beide jedoch entfernen sich mit jedem nachfolgenden Schritt weiter von ihren Zielen. Der Prozeß erreicht seinen Höhepunkt in der herrlichen Domszene,
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