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Es gibt kein nächstes Mal

Es gibt kein nächstes Mal

Titel: Es gibt kein nächstes Mal
Autoren: Imogen Parker
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schleiche ich mich durch den
Korridor in die Säuglingsstation, hole ihn aus seinem Bettchen und nehme ihn
mit in mein Bett. Es wird nicht gern gesehen, aber hier gibt es eine nette
Säuglingsschwester, die ein Auge zudrückt, weil ich ihn nur für kurze Zeit bei
mir haben werde. Wenn er neben mir liegt, mich beschnuppert, wie ein kleines
Tierchen nach meiner Brust sucht und sich vollkommen in Sicherheit fühlt, sowie
er sie gefunden hat, dann schaue ich auf ihn hinunter und weiß ganz einfach,
daß ein liebenswertes und kluges Geschöpf aus ihm werden wird, leb rede mit
ihm, Shirl! Ich sage ihm, er soll zu einem netten Mann heranwachsen, der die
Frauen gut behandeln wird. Ich sage ihm, daß ich ihn liebe. Glaubst Du, ich bin
schon durchgedreht, Shirl? Es heißt, manche Frauen würden überschnappen,
nachdem sie ein Baby bekommen haben. Aber das ist mir egal.
    Ich erzähle ihm, daß er glücklich dran ist, weil
er eine Familie haben wird, die er kennt und die ihn liebt, aber außerdem auch
noch eine Familie, die er überhaupt nicht kennt und die weit fort von ihm lebt,
die ihn aber auch liebt und die täglich an ihn denken wird.
    Und genau deshalb schreibe ich dir, Shirl.
Verstehst Du, ich werde ihn ordnungsgemäß adoptieren lassen. Es tut mir leid,
Shirl, vor allem, weil Du meinetwegen schon so viel durchgemacht hast.
    Versteh mich nicht falsch, ich glaube, Du wärst
eine reizende Mum. Ich weiß jetzt nur einfach, daß ich auch eine bezaubernde
Mutter wäre. Ich hätte nie damit gerechnet, daß ich dieses Gefühl einmal haben
könnte. Ich weiß, daß ich, wenn ich Dir den Jungen überließe, jedesmal, wenn
ich ihn ansähe, dächte: Das ist mein Baby. Und wenn ich jemals aus dem Loch
herauskomme, in dem ich festsitze, dann würde ich den Jungen wieder für mich
haben wollen. Es ist nicht fair, ihn wie ein Buch aus der Leihbücherei zu
behandeln, das man für ein paar Monate oder Jahre behält und dann wieder
zurückgibt, meinst Du nicht auch ?
    Und dann ist da noch Dad. Ich weiß, wie schwer
es für Dich war, ihn dazu zu überreden, daß er das Baby unter seinem Dach duldet.
Ich habe versucht, mir einzureden, daß er gar kein so übler alter Kerl ist,
aber in Wahrheit hasse ich ihn, Shirl, und ich habe ihn schon immer gehaßt, und
ich will nicht, daß mein Baby mit einem so unerbittlichen alten Ekel als
Großpapa aufwächst. Ich kenne Dad. Er brächte es nicht über sich, meinen Sohn
anzusehen, ohne sich zu sagen, daß er mein uneheliches Balg ist, und er würde
auch ihm das Leben zur Hölle machen.
    Ich will nicht, daß mein Sohn so wie wir ständig
Fish und Chips riechen muß, während er aufwächst. Ich will nicht, daß er an
einem regnerischen Tag auf das Meer hinausschaut und von einem besseren Leben
träumt. Ich will, daß er dieses Leben lebt. Verstehst Du mich? Das ist
wenigstens etwas, was ich ihm geben kann. Es ist das einzige, was ich für ihn
tun kann. Ich muß alles für ihn tun, was ich kann, Shirl, versteh mich, ich muß
mein Bestes für ihn tun.
    Morgen holen sie ihn, Shirl. Ich dachte, es sei
einfacher für Dich, wenn Du ihn gar nicht erst zu sehen bekommst. Jetzt werde
ich ihn zum letzten Mal baden. Ich muß mir jeden Quadratzentimeter seines
vollkommenen kleinen Körpers genau ins Gedächtnis einprägen. Jedes Ohr, jeden
seiner winzigen Finger, jeden Zeh, diese Knopfnase, die Knie mit den Grübchen,
diese purpurne Mondsichel direkt über seinem Herzen.
    Ich weiß, daß ich die beiden Dinge verlieren
werde, die mir auf Erden am wichtigsten sind — mein Baby und die Liebe meiner
Schwester — , aber versuch, mir zu verzeihen, Shirl. Es ist die einzige
wahrhaft selbstlose Tat, die ich je begangen habe.
    Deine Schwester Stella
     
    Gemma kniete neben ihrem Bett. Der Schuhkarton
war umgestülpt, und Estellas Briefe lagen da, wo sie sie ausgekippt hatte, auf
dem weißen Bettbezug, wie Flicken einer unfertigen Patchwork-Tagesdecke. Eine
Träne tropfte auf den Bogen zartvioletten Briefpapiers, den sie in der Hand
hielt, und die Tinte, die vor vierzig Jahren getrocknet war, begann zu
verlaufen. Sie tupfte den Brief mit einem Zipfel eines Kissenbezugs ab.
    Und was jetzt? Ihrer Erschütterung war sie nicht
gewachsen. Sie mußte die notwendigen Schritte unternehmen, doch innerlich
zitterte sie.
    Schließlich erhob sie sich mühsam, zog das
zerknitterte rote Kleid aus und warf es in dem sicheren Wissen, daß sie es nie
mehr tragen würde, im Bad in den Wäschekorb. Dann stellte sie sich unter die
Dusche. Der
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