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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Autoren: Horst Bosetzky
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in dem Frieda Grienerick wohnte. Er war gerade vorgefahren, als Kappe und Galgenberg im Hauseingang verschwunden waren. Dass sie zu Frieda wollten, erschien ihm sicher, die große Frage war nur, ob sie wegen des umgestürzten Milchwagens oder des Mordes an Paul Tilkowski gekommen waren. Hatte sich Frieda ihrer Mutter anvertraut und war die Alte zur Polizei gelaufen, oder hatte Frieda selber die Nerven verloren? Oder hatte gar Weißagk etwas mitbekommen und die Kriminalen auf seine Spur gebracht. Aber auch Sophie Schünow konnte ihn angezeigt haben. Nüchtern betrachtet, war seine Lage nicht sehr schön. Automatisch ging sein Blick zu dem Guckloch hoch, durch das Frieda Grienerick gesehen hatte, wie Paul Tilkowski von ihm erschossen worden war. Nach heftigem Streit und im Affekt - aber wer würde ihm das schon abnehmen? Der Staatsanwalt würde auf Mord aus niedrigen Beweggründen plädieren –
    und das konnte den Galgen bedeuten.
    Wie findig war dieser junge Kriminale, dieser Kappe? Davon hing sein Schicksal ab. Der Ältere war zu sehr biederer Handwerker, um hinter alles zu kommen. Doch wenn dieser Kappe erst einmal Witterung aufgenommen hatte, dann jagte er offensichtlich verbissen hinter seiner Beute her - selbst wenn er dabei das eigene Leben riskierte, wie er es im Fall Weißagk mit den beiden spektakulären Versuchen, ihn festzunehmen, getan hatte.
    Kockanz dachte nach. Am besten war es, er fuhr nach Hause und packte alles zusammen, um unterzutauchen. Ein erstes Versteck auf deutschem Boden hatte er sicher, und wenn ein wenig Gras über die Sache gewachsen war und man an den Grenzen nicht mehr nach ihm fahndete, konnte er ins Ausland gehen, am besten in die Vereinigten Staaten.
    Er fühlte sich schlaff und glaubte, schon Fieber zu haben, die übliche Influenza, wenn der Herbst begann, schaffte es aber, in seine Wohnung zu fahren, alles in zwei Koffer zu stopfen, was ihm wichtig war, und diese ungesehen in seinem Auto zu verstauen. Das parkte etwa hundert Meter von seinem Wohnhaus entfernt, sodass er dessen Eingang voll im Blick hatte. Kamen Kappe und Galgenberg in der nächsten Stunde, würde er sofort Berlin verlassen, kamen sie nicht, konnte er in seine Wohnung zurückkehren, dann war die Gefahr vorüber. Wenn er zwischen dem Galgen und der Grienerick zu wählen hatte, dann war die das kleinere Übel.
    Gottfried Kockanz begann zu warten.

SIEBZEHN
Mittwoch, 9. November 1910
    DAS ERSTE GROSSE NACHSPIEL zu den September-Unruhen im Stadtteil Moabit begann vor der 3. Strafkammer des Landgerichts I, die ihre Sitzungen in den Schwurgerichtssaal des Landgerichts III verlegt hatte.
    Als Kappe vor dem Gebäude des Kriminalgerichts stand, herrschte so großer Andrang, dass er lange warten musste, ehe er eingelassen wurde. Der Prozess schien ein Großereignis zu werden. Verschiedene Trupps von Schutzleuten sah man mit umgeschnallten Revolvern im Gebäude verschwinden. Kappe hatte ein ungutes Gefühl bei alldem. Auch zahlreiche Schutzleute in Zivil waren aufgeboten worden und hatten an den Treppen und auf den Gängen ihre vorgegebenen Posten bezogen. Der ziemlich geräumige Saal war kaum groß genug, um alle Angeklagten und sonstigen Prozessbeteiligten aufzunehmen. Die drei langen Pressetische waren dicht besetzt.
    Kappe winkte einem Bekannten zu, dem Polizeileutnant Kulke, der für das Polizeipräsidium stenographieren sollte. Auch die kriminalpolitische Sektion des von Geheimrat Dr. von Liszt geleiteten kriminalistischen Seminars war auszumachen. Dann wurden die 34 Angeklagten, die sich zumeist in Untersuchungshaft befunden hatten, hereingeführt und, als die Anklagebank nicht ausreichte, auf den Bänken der Geschworenen platziert.
    Um 9.45 Uhr eröffnete Landgerichtsdirektor Lieber die Verhandlung, unterstützt von drei Landgerichtsräten und einem Amtsrichter. Mit Rücksicht auf die außerordentlich lange Dauer der Verhandlung hielt man einen Assessor als Ergänzungsrichter in Bereitschaft. Die Anklage wurde durch den Ersten Staatsanwalt Steinbrecht und den Staatsanwalt Stelzner vertreten. Die Verteidigung bestand aus zehn Rechtsanwälten, von denen vier einen Doktor vor dem Namen stehen hatten.
    Kappe war es gelungen, eine Liste mit den Namen der Angeklagten zu organisieren. Nur ein Kohlenarbeiter war unter ihnen, dazu kamen zwei Kutscher. Zwar überwogen die Arbeiter, aber es gab auch mehrere Schlosser und jeweils einen Schiffer, Barbier und Kunstmaler. Das größte Aufsehen erregten die fünf Frauen auf der
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