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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
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würde noch kommen. Ohne große Sorgfalt schnitt er eine kleine Spalte aus, die er vor sich hinlegte. Er mußte sich immer sehr konzentrieren, wenn er las, und wenn er gezwungen war, laut zu lesen, war es noch schlimmer. Adamsberg war ein schlechter Schüler gewesen, der nie so recht verstanden hatte, weshalb man ihn zur Schule schickte, der sich aber bemühte, den Anschein zu erwecken, als arbeitete er ganz brav, um seine Eltern nicht zu betrüben und vor allem, um sie nie wissen zu lassen, daß es ihm völlig egal war. Er las:
    »Scherz oder Manie eines schlechten Philosophen? Auf jeden Fall vermehren sich die blauen Kreidekreise des Nachts weiterhin wie Unkraut auf den Bürgersteigen der Hauptstadt und erwecken allmählich die Neugier der Pariser Intellektuellen. Die Kreise erscheinen immer häufiger. 63 Kreise sind bereits entdeckt worden, seitdem vor vier Monaten im 12. Arrondissement die ersten auftauchten. Diese neue Zerstreuung, die aussieht wie eine Schnitzeljagd, bietet ein völlig unerforschtes Gesprächsthema für Leute, die sich in den Cafés sonst nichts zu sagen haben. Und da es davon viele gibt, wird überall darüber gesprochen...«
     
    Adamsberg unterbrach die Lektüre, um den Namen des Verfassers am Ende des Artikels zu suchen. Wieder dieser Kretin, murmelte er, da braucht man ja nicht viel zu erwarten.
     
    »... Bald schon wird es darum gehen, wer die Ehre haben wird, morgens beim Weg zur Arbeit einen Kreis vor seiner Haustür zu finden. Sei es nun ein zynischer Scherzbold oder ein echter Verrückter - sollte er Bekanntheit und Ruhm anstreben, so hat der Zeichner der blauen Kreise jedenfalls sein Ziel erreicht. All jene, die ihr ganzes Leben darum kämpfen, endlich bekannt zu werden, werden die Lust verlieren angesichts seiner Demonstration, daß ein Stück Kreide und ein paar nächtliche Rundgänge ausreichen, um zur berühmtesten Pariser Person des Jahres 1990 zu werden. Zweifellos würde das Fernsehen ihn einladen, um in ›Die kulturellen Phänomene am Ende des zweiten Jahrtausends‹ aufzutreten, wenn es gelingen würde, ihn zu fassen. Indes: Er ist ein echtes Phantom. Noch niemand hat ihn bislang dabei überrascht, wie er seine weiten blauen Kreise auf dem Asphalt zeichnete. Er tut es nicht jede Nacht, und er sucht sich ein beliebiges Viertel von Paris aus. Wir können sicher sein, daß bereits zahlreiche Nachtschwärmer seine Fährte verfolgen. Waidmanns Heil.«
     
    Ein etwas geistreicherer Artikel war in einer Zeitung aus der Provinz erschienen.
     
    »Paris im Griff eines harmlosen Zwangsneurotikers.
    Alle amüsieren sich darüber, aber die Fakten an sich sind schon eigenartig. Seit über vier Monaten werden nachts in Paris mit blauer Kreide große Kreise von fast zwei Metern Durchmesser um einen auf dem Bürgersteig herumliegenden Gegenstand gezeichnet; der Täter ist vermutlich ein Mann. Einziges ›Opfer‹ dieser eigenartigen Obsession sind die Gegenstände, die die Person mit ihren Kreisen umschließt, wobei es sich immer um einen einzelnen Gegenstand handelt. Die Inhalte der bisher entdeckten sechzig Kreise ergeben eine recht eigenartige Liste: zwölf Kronkorken, eine Gemüsestiege, vier Büroklammern, zwei Schuhe, eine Zeitschrift, eine Ledertasche, vier Feuerzeuge, ein Taschentuch, ein Vogelbein, ein Brillenglas, fünf Hefte, der Knochen eines Lammkoteletts, eine Kugelschreibermine, ein Ohrring, ein Hundehaufen, ein Splitter eines Autoscheinwerfers, eine Batterie, eine Coca-Cola-Dose, ein Stück Eisendraht, ein Wollknäuel, ein Schlüsselanhänger, eine Orange, ein Röhrchen Kohletabletten, ein Fleck Erbrochenes, ein Hut, der Inhalt eines Autoaschenbechers, zwei Bücher (Die Metaphysik der Wirklichkeit und Kochen ohne Mühe), ein Nummernschild, ein zerplatztes Ei, ein Button mit der Aufschrift ›I love Elvis‹, eine Enthaarungspinzette, der Kopf einer Puppe, ein Zweig von einem Baum, ein Unterhemd, ein Kleinbildfilm, ein Vanille-Joghurt, eine Kerze und eine Badehaube. Eine eintönige, aber für die unerwarteten Schätze, die die Bürgersteige für den Suchenden bereithalten, aufschlußreiche Aufzählung. Nachdem der Psychiater Rene Vercors-Laury sich für den Fall interessiert und versucht hat, seine Kenntnisse einzubringen, spricht man inzwischen von ›resemantisierten Objekten‹, und der Mann mit den Kreisen ist in der gesamten Hauptstadt zu einem gesellschaftlichen Thema geworden, das selbst die Sprayer, die jetzt sicherlich verärgert sind, daß ihre Graffiti einer
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