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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
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dich zu lieben, habe ich nicht die Kraft. Es ist zu schwer. Es tötet mir den Nerv. Man weiß nie, wo du bist, wo deine Seele herumgeistert. Das bedrängt mich und macht mir Sorgen. Meine Seele geistert ja auch zuviel herum. Also macht sich alle Welt unaufhörlich Sorgen. Herrgott noch mal, das weißt du alles, Jean-Baptiste.«
    Camille lächelte.
    Jetzt kam das selbsttätige Schließen der Türen, das Zurücktreten von der Bahnsteigkante. Dann kam die Aufforderung, nichts aus den Fenstern zu werfen. Ja. Adamsberg kannte das alles. Damit kann man jemanden verletzen oder gar umbringen. Der Zug fuhr ab.
    Eine Stunde. Eine Stunde wenigstens, bevor er verreckte.
    Er rannte dem Zug hinterher und packte den Haltegriff.
    »Polizei«, rief er dem Schaffner zu, der ihn gerade anbrüllen wollte.
    Er lief durch den halben Zug.
    Er fand sie in ihrem Abteil, sie lag auf ihrer Liege, einen Ellbogen aufgestützt, und schlief nicht, las nicht, weinte nicht. Er trat ein und schloß die Abteiltür.
    »Ich wußte es doch«, sagte Camille. »Du bist eine Nervensäge.«
    »Ich möchte mich eine Stunde neben dir ausstrecken.«
    »Aber warum eine Stunde?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Hast du immer noch diese Angewohnheit? Sagst du immer noch ›Ich weiß es nicht?«
    »Ich habe keine meiner Angewohnheiten aufgegeben. Ich liebe dich, ich will mich da eine Stunde ausstrecken.«
    »Nein. Dann bin ich hinterher wieder völlig fertig.«
    »Du hast recht. Ich auch.«
    Sie saßen sich eine Weile gegenüber. Der Schaffner betrat das Abteil.
    »Polizei«, wiederholte Adamsberg. »Ich vernehme die Dame. Lassen Sie bis auf weiteres niemanden hier rein. Was ist der nächste Halt?«
    »Lille, in zwei Stunden.«
    »Danke«, sagte Adamsberg. Und er lächelte ihm zu, um ihn nicht zu kränken.
    Camille war aufgestanden und betrachtete die hinter der Scheibe vorbeifliegende Landschaft.
    »Das ist ein sogenannter Machtmißbrauch«, sagte Adamsberg. »Tut mir leid.«
    »Eine Stunde, sagst du?« fragte Camille, die Stirn an der Scheibe. »Glaubst du, daß wir überhaupt etwas anderes tun können?«
    »Nein, ganz ehrlich, ich glaube es nicht«, sagte Adamsberg.
    Camille schmiegte sich an ihn. Adamsberg nahm sie in die Arme wie in seinem Traum, in dem der Hotelboy auf dem Bett wartete. Was in diesem Zugabteil allerdings besser war, kein Hotelboy war da. Und auch Mathilde nicht, um ihn wegzureißen.
    »Bis Lille sind es ja eigentlich zwei Stunden«, sagte Camille, »Eine Stunde für dich und eine Stunde für mich«, erwiderte Adamsberg.
     
    ***
     
    Einige Minuten vor Lille zog sich Adamsberg im Dunkeln wieder an. Dann zog er Camille langsam wieder an. Eigentlich war keiner fröhlich.
    »Auf Wiedersehen, mein Liebling«, sagte er.
    Er streichelte ihr Haar, er küßte sie.
    Er wollte dem Zug nicht zusehen, wenn er abfuhr. Er blieb mit vor der Brust verschränkten Armen auf dem Bahnsteig stehen. Da merkte er, daß er sein Jackett im Abteil gelassen hatte. Er malte sich aus, wie Camille es vielleicht übergezogen hatte, daß die Ärmel ihr bis über die Finger fielen, daß sie hübsch damit aussah, daß sie das Fenster geöffnet hatte und die nächtliche Landschaft betrachtete. Aber er war nicht mehr im Zug, um noch irgend etwas über Camille erfahren zu können. Er wollte laufen, ein Hotel am Bahnhof suchen. Er würde den kleinen Liebling wiedersehen. Eine Stunde. Sagen wir wenigstens eine Stunde, bevor er verreckte.
    Der Hotelier bot ihm ein Zimmer mit Blick auf die Schienen an. Er sagte, das sei ihm völlig egal, er wolle telefonieren.
    »Danglard? Hier Adamsberg. Haben Sie Le Nermord immer noch vor sich? Schläft er auch nicht? Sehr gut. Sagen Sie ihm, daß ich nicht die Absicht habe, jetzt zu verrecken. Nein. Das ist nicht der Grund meines Anrufs. Es ist wegen der Modezeitschrift. Lesen Sie die Modezeitschrift, die Artikel von Delphine Vitruel. Lesen Sie danach nochmal die Bücher des großen Byzantinisten. Dann verstehen Sie, daß sie die Verfasserin seiner Bücher war. Sie allein. Er stellte nur das ganze Material zusammen. Dank ihres pflanzenfressenden Liebhabers wäre Delphine früher oder später der Sklaverei entronnen, das wußte Le Nermord sehr gut. Sie hätte irgendwann gewagt, den Mund aufzumachen. Dann hätte alle Welt erfahren, daß der große Byzantinist nie existiert hat und daß der Mensch, der an seiner Stelle dachte und schrieb, in Wahrheit seine Frau war. Alle Welt hätte erfahren, daß er nichts war als ein erbärmlicher Tyrann, nur eine
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