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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
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derart harten Konkurrenz ausgesetzt sind, in Vergessenheit geraten läßt. Jeder versucht herauszufinden, was wohl der Beweggrund für die Aktivität des Mannes mit den blauen Kreisen sein mag - bisher erfolglos. Denn das Irritierendste daran ist, daß um jeden Kreis in einer schönen, schrägen Schrift offenbar die Schrift eines gebildeten Mannes - der folgende Satz geschrieben steht, der die Psychologen in einen wahren Abgrund von Fragen stürzt: ›Victor, sieh dich vor, was treibst du jetzt noch vor dem Tor?‹«
    Ein mißlungenes Foto illustrierte den Text.
    Ein dritter Artikel schließlich war weniger genau und sehr kurz, aber er beschrieb die Entdeckung der vorangegangenen Nacht in der Rue Caulaincourt: In dem großen blauen Kreis lag eine tote Maus, und um den Kreis war wie gewöhnlich geschrieben: »Victor, sieh dich vor, was treibst du jetzt noch vor dem Tor?«
    Adamsberg verzog das Gesicht. Das war genau das, was er geahnt hatte.
    Er schob die Artikel unter den Fuß seiner Schreibtischlampe und fand, daß er Hunger hatte, ohne zu wissen, wie viel Uhr es war. Er verließ das Kommissariat, ging lange durch noch wenig vertraute Straßen, kaufte ein Sandwich mit irgendwas drauf, etwas zu trinken und Zigaretten und ging langsam zum Kommissariat zurück. In seiner Hosentasche fühlte er bei jedem Schritt, wie der Brief von Christiane, den er heute morgen erhalten hatte, zerknitterte. Sie schrieb auf einem dicken, kostbaren Papier, das in Hosentaschen sehr störend war. Adamsberg mochte das Papier nicht.
    Er mußte ihr seine neue Adresse mitteilen. Es würde ihr nicht allzu schwerfallen, häufig vorbeizukommen, da sie in Orleans arbeitete. Aber in ihrem Brief gab sie zu verstehen, daß sie eine Stelle in Paris suche. Seinetwegen. Er schüttelte den Kopf. Er würde später drüber nachdenken. Seit er sie kannte, vielleicht ein halbes Jahr, war das immer so, er sah zu, daß er später drüber nachdachte. Nicht dumm, das Mädchen, ziemlich gewitzt sogar, aber ein bißchen in Gefahr, Klischeevorstellungen zu erliegen. Das war natürlich schade, aber nicht allzu schlimm, weil es nur ein leichter Makel war und man nicht das Unmögliche erträumen sollte. Außerdem hatte er ebendies Unmögliche - Brillanz, Unvorhersehbarkeit, sehr weiche Haut, das ständige Pendeln zwischen Ernst und Flüchtigkeit - bereits einmal kennengelernt, vor acht Jahren, mit Camille und ihrem idiotischen Seidenäffchen, das sie zum Pinkeln auf die Straße führte, wobei sie Passanten, die sich beschwerten, sagte: »Richard III. muß eben draußen pinkeln.«
    Häufig war der kleine Affe, der nach Orangen roch, warum auch immer, denn er fraß keine, an ihnen beiden hochgeklettert und hatte mit konzentriertem Blick und sorgfältigen und präzisen Gesten so getan, als ob er Läuse auf ihren Armen suchte. Camille, er und Richard III., der nach einer unsichtbaren Beute an ihren Handgelenken kratzte. Aber sie war ihm entwischt, sein kleiner Liebling. Und er, der Bulle, war nie in der Lage gewesen, sie wiederzufinden, die ganze Zeit, die er gesucht hatte, ein ganzes Jahr, ein so langes Jahr, und schließlich hatte seine Schwester ihm gesagt: »Du hast kein Recht dazu, laß sie in Ruhe.« Der kleine Liebling, wiederholte Adamsberg. »Würdest du sie gern wiedersehen?« hatte ihn seine Schwester gefragt. Nur die jüngste seiner fünf Schwestern wagte es, von dem kleinen Liebling zu reden. Er hatte gelächelt und gesagt: »Von ganzem Herzen, ja, wenigstens eine Stunde, bevor ich verrecke.«
    Adrien Danglard erwartete ihn im Büro, einen Plastikbecher mit Weißwein in der Hand und mit recht gemischten Gefühlen im Gesicht.
    »Die Stiefel von dem jungen Vernoux fehlen, Kommissar. Knöchelhohe Stiefel mit Schnallen.«
    Adamsberg erwiderte nichts. Er versuchte, Danglards Unzufriedenheit zu respektieren.
    »Ich habe Ihnen heute morgen nichts demonstrieren wollen«, sagte er. »Ich kann nichts dafür, wenn der Sohn Vernoux der Mörder ist. Haben Sie die Stiefel gesucht?«
    Danglard stellte eine Plastiktüte auf den Tisch.
    »Da sind sie«, sagte er seufzend. »Das Labor hat schon mit der Arbeit begonnen, aber bereits auf den ersten Blick erkennt man den Lehm von der Baustelle an den Sohlen, er klebt derartig, daß das Wasser der Kanalisation ihn nicht abgewaschen hat. Sehr schöne Schuhe. Schade.«
    »Sie lagen tatsächlich in der Kanalisation?«
    »Ja, fünfundzwanzig Meter unterhalb des Gullys, der seiner Wohnung am nächsten liegt.«
    »Sie arbeiten schnell,
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