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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
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Krawatte über einem ausgebeulten Hemd trug, das er nachlässig in seine Hose stopfte. Dann hatte die Verführung begonnen, sie stieg allmählich wie ein Wasserspiegel. Mit der Stimme von Adamsberg hatte es begonnen. Danglard hörte sie gerne, sie beruhigte ihn, sie schläferte ihn fast ein. »Sie wirkt wie ein Streicheln«, hatte Florence gesagt, aber o.k., Florence war eine Frau, sie war allein für die Worte verantwortlich, die sie wählte. Castreau hatte gebrüllt: »Sag nicht, daß er schön ist.« Florence schien ratlos zu sein. »Wart, da muß ich nachdenken«, hatte sie geantwortet. Das sagte Florence immer. Sie war ein gewissenhaftes Mädchen, sie dachte viel nach, bevor sie redete. Sie war sich ihrer nicht sicher und hatte stockend gesagt: »Nein, aber es hat was mit Grazie zu tun, oder irgend so was. Ich denk drüber nach.« Da ein paar Kollegen lachten, wo Florence doch so eifrig schien, hatte Danglard gesagt: »Florence hat recht, das ist doch klar.« Margellon, ein junger Beamter, hatte die Gelegenheit genutzt und ihn eine Schwuchtel genannt. Noch nie hatte Margellon etwas Intelligentes von sich gegeben, noch nie. Und Danglard brauchte Intelligenz ebenso nötig wie Alkohol. Er hatte mit den Schultern gezuckt und flüchtig gedacht, daß er es eigentlich bedauerte, daß Margellon nicht recht hatte, weil er eine ganze Menge Enttäuschungen mit den Frauen hinter sich hatte und er meinte, daß Männer weniger kleinlich wären. Es hieß, Männer seien Dreckskerle, sie beurteilten eine Frau, sobald sie mit ihr geschlafen hätten; aber mit den Frauen war es noch schlimmer, sie weigerten sich, mit einem zu schlafen, wenn man ihnen nicht ganz genau paßte. Auf diese Weise wurde man nicht nur bewertet und eingeschätzt, sondern hatte außerdem auch mit niemandem geschlafen.
    Das ist traurig.
    Frauen sind hart. Danglard kannte Frauen, die ihn gemustert und nichts von ihm gewollt hatten. Zum Heulen bisweilen. Wie auch immer, er wußte, daß die aufrichtige Florence recht hatte, was Adamsberg betraf, und Danglard ließ sich bislang vom Charme dieses Mannes gefangen nehmen, den er um zwei Köpfe überragte. Er fing allmählich an zu verstehen, daß das unbestimmte Verlangen, ihm irgendwas zu erzählen, das einen überfiel, die Erklärung dafür sein konnte, daß ihm so viele Mörder haarklein ihre Massaker berichtet hatten, einfach so, aus Versehen, könnte man sagen. Einfach so, um mit ihm zu reden.
    Danglard, der einen schönen Strich hatte, wie man ihm immer wieder sagte, zeichnete Karikaturen von seinen Kollegen. Was dazu führte, daß er sich ein bißchen in Gesichtern auskannte.
    Die Visage von Castreau zum Beispiel hatte er gut getroffen. Aber er wußte im voraus, an Adamsbergs Gesicht würde er sich nicht heranwagen, denn das war so, als ob hier sechzig Gesichter aufeinandergeprallt wären, um es zu bilden. Weil die Nase zu groß war, weil der Mund gekrümmt, beweglich und zweifellos sinnlich war, weil die Augen unbestimmt blickten und herabhängende Lider hatten, weil die dünnen Wangenknochen zu deutlich hervortraten, schien es ein leichtes, diese zusammengestückelte Visage zu karikieren, die unter Mißachtung jeglicher auch nur entfernt klassischer Harmonie aus einem wahren Gerümpelhaufen entstanden war. Man hätte meinen können, daß Gott gerade kein Rohmaterial mehr gehabt hatte, als er Jean-Baptiste Adamsberg herstellte, und alle Tiefen seiner Schubladen hatte plündern und lauter Stücke zusammenkleben müssen, die sich nie zusammengefunden hätten, wenn Gott an diesem Tag über ordentliches Material verfügt hätte. Zum Ausgleich dafür schien sich Gott, des Problems bewußt, Mühe gegeben zu haben, viel Mühe sogar, um dieses Gesicht in einem meisterlichen Schwung auf unerklärliche Weise zu vollenden. Danglard, der sich nicht erinnerte, je einen solchen Schädel gesehen zu haben, dachte, es wäre Verrat, ihn mit drei Federstrichen zusammenzufassen, seine schnellen Striche hätten dessen Originalität nicht hervorgehoben, sondern im Gegenteil seinen Glanz zum Verschwinden gebracht.
    Aus diesem Grund überlegte Danglard in diesem Moment, was sich wohl in den Tiefen von Gottes Schubladen befinden mochte.
    »Hören Sie mir zu, oder schlafen Sie gerade ein?« fragte Adamsberg. »Ich habe nämlich bemerkt, daß ich die Leute manchmal in Schlaf versetze, in einen wirklichen Schlaf. Vielleicht, weil ich nicht laut genug oder nicht schnell genug rede, ich weiß es nicht. Erinnern Sie sich? Ich war bei dem
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