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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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Strickereien ganz fusselig wurde. Und egal, wie ich auch versuchte auszuweichen, er fand, wie zufällig, immer wieder eine Lücke zwischen den Kopflehnen, um mich mit wimperigen Blicken zu belegen. Bis mich mein Adrenalinspiegel zu derartig festen Maschen zwang, dass die Stricknadeln schon quietschten. Ich nahm Zettel und Stift und schrieb das Lied »Zug nach Paris«. Durch meinen literarischen Erguss angefeuert, schrieb ich den fertigen Text gleich noch mal ab und malte mir in tausend Variationen erwartenden Bebens aus, wie ich ihm diesen Text beim Aussteigen in die Hand drücken würde. Ich habe es dann auch getan, vergaß darüber mein Strickzeug und sah den fast fertigen Pullover nie wieder. Jenen Jungen übrigens auch nicht, obwohl er mir fest versprochen hatte …
    Durch diese Anreiseerotik derartig aufgegeilt, mittendrin in der Stadt der Liebe, musste ich, angekommen bei unseren Gastgebern, mich erst einmal vor Erschöpfung ablegen. Und dann passierte etwas sehr Merkwürdiges: Der Gatte unseres Gastgeberehepaares, ein wunderschöner Jüngling, Sohn einer Vietnamesin und eines französischen Offiziers, brachte mir eine Tasse Tee, zog sich aus, kam zu mir ins Bett und erklärte mir völlig sachlich, ich müsse ihm jetzt alles zeigen, er müsse es wissen – aus Gründen, die nicht hierhergehören. Ich war so überwältigt – die Damen tranken ja Tee im Salon –, dass ich danach gleich im Bett liegen blieb. Über diese Geschichte habe ich allerdings kein Lied geschrieben.
    Zug nach Paris
    Im Zug nach Paris
Fenster voller Wasser und Misteln
Im Zug nach Paris
Stahlräder klopfen und wispern
Zwei Augen gegenüber
und was da klopft, sind die Räder
Graue Sonne, graue Krähen, grauer Wunsch
Wie wir guckten und nichts sagten
und uns langsam näher wagten
Und die Räder klopfen weiter
nach Paris, nach Paris
nach Paris, Paris, Paris
    Wach ist das Verlangen
durch das Schöne seiner Fremdheit
Wach ist die Begierde
und nur noch so wenig Zeit
Zwei Hände gegenüber
und was da klopft, sind das die Räder?
Flauer Magen, flaue Knie, flauer Sinn
Wie wir lachten und nicht küssten
und nichts machten, weil nichts wussten
Und die Bäuche klopfen lauter
nur ein Kuss, mehr als Kuss, nur ein Kuss
mehr als Kuss, ein Kuss, ein Kuss
    Seine Augen, lange Wimpern
seh ich sprühen, hör ich flüstern
Seine Augen, lange Wimpern
hör ich klopfen und wispern
Zwei Menschen gegenüber
und was da klopft, sind nicht die Räder
sondern Wünsche und Sinne und Verlangen
Ob wir hofften und nicht trauten
und aufs Klopfen Hoffnungen bauten
Und sein Lächeln in der Tasche
in Paris, à Paris, in Paris, Paris
Paris, in Paris – in Paris

… und weiter geht’s:
    Georgette Dee
Gib mir Liebeslied
Chansons, Geschichten, Aphorismen
    ISBN 978-3-86034-506-1

Cora Frost
Mein Körper ist ein Hotel
    Das Gastspiel in der Oper in Manaus kommt durch eine Freundin zustande, die Sponsoring für mich macht. Als sie von dem Opernfestival spricht, sage ich: »Seit ich klein bin, will ich schon dorthin.« Damals setzte ich mich ins Gewächshaus und atmete die Dschungelluft ein. Sie meint, ich könne mitfahren und vielleicht auch singen. Bevor wir aufbrechen, betrinke ich mich dreimal, weil ich es einfach nicht glauben kann.
    Wenn Gert eine Spinne sieht, beginnt er Vorträge zu halten: »Warum glaubst du, dass die da sitzt? Die wartet nur auf den Moment, wo sie sich herunterlassen kann. Das ist alles geplant.« In Hotelzimmern oder anderen fremden Räumen schiebt Gert zuerst den Schrank beiseite und ruft: »Ha! Da sitzen sie, mit Absicht. Weil sie da sicher sind. Und nachts fallen sie über dich her. Die machen das mit Absicht.« Schon ist er im nächsten Zimmer und schiebt den Schrank beiseite.
    Gert kommt nicht mit nach Brasilien. Er hat Angst, dass wir tellergroße Spinnen treffen, die auf seinen Tisch springen, dass ihn Mörderameisen auffressen oder er von einer Anakonda verschlungen wird. Er hat zu viele Horrorfilme gesehen. Ich habe ihm wohl auch die falsche Lektüre über Brasilien gegeben: ein Geo-Heft, in dem steht, dass der Boden vibriert, wenn alle grässlichen Tiere, die man sich nur vorstellen kann, vor den Mörderameisen fliehen. Die Ameisen selber machen alles nieder. Wer nicht schafft, in die Hängematte zu springen, hat verloren. Gert hat wohl Angst, dass er in die Hängematte springt und auf der anderen Seite wieder hinunterfällt. Die Rede ist auch von schwarzhäutigen Schlangen, die am liebsten Giftschlangen fressen. Und dass man vorm Baden ein
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