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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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großes Radiointerview, und fürs Abschlusskonzert wolle man mich auch haben. Völlig überfahren sagte ich, gut, ich komme. Am nächsten Morgen setzte ich mich ins Auto und fuhr los. Unterwegs fiel mein Auspuff ab, ich kam mit Pauken und Trompeten abends um elf wieder in Nürnberg an. Das ist schon eine miese Strecke, Husum – Nürnberg, fast einmal durch die Republik.
    Das groß angekündigte Interview dauerte eine lausige Viertelstunde. Ich war da auf irgendwas reingefallen. Aber nun war ich schon mal da, und für die Abschlussveranstaltung sollte mich ein Pianist begleiten, der sonst in Bayreuth korrepetierte. Ich probierte ein bisschen mit ihm rum, aber er spielte nun einmal Wagner – und zwar immer, egal was auf dem Programm stand. Unbeschreiblich! Ich hab mir schon vor dem Auftritt eine halbe Flasche Sherry reingeschüttet. Man ist so was von außer Kontrolle, weil man ganz schnell betrunken davon wird, ohne es recht zu merken – und zwar sternhagelvoll. Ich ging also mit dem Wagnerpianisten auf die Bühne, wo alles ganz anders stand, als ich es haben wollte. In diesem großen Zelt mit fünfhundert Leuten, die an Tischen saßen, habe ich als Erstes im langen Abendkleid den Steinwayflügel in die richtige Position geschoben. Hinterher sagte ein Freund von mir, also, Georgette, so was kannst du nicht machen, das passt nicht mehr.
    Wie auch immer, ich war schon gut dabei, sang meine Lieder, und er spielte seinen Wagnerstiefel. Irgendwann brachte ich »Surabaya-Johnny«, eine Sektflasche in der Hand, aus der ich getrunken hatte. Das Publikum war unruhig und hysterisch, sie haben mich gefeiert und sind ständig zwischendurch rausgegangen, entweder zum Pissen oder um von den Büschen – das Zelt stand mitten in einem Park – Blüten abzureißen und mir auf die Bühne zu werfen. Es war wirklich Nachtklub hoch fünfundzwanzig: Die Leute feierten. Sie hatten sich entschlossen zu sagen, okay, das ist alles unglaublich, was da auf der Bühne passiert, aber es kommt von Herzen, also machen wir jetzt alle mit. Ich dachte zwischendurch in meinem Irrsinn, ich muss noch ein bisschen Kunst bieten. Also »Surabaya-Johnny«, und ich sagte mir, so: Wenn jetzt noch einer rausgeht, sich ein Bier holt und sich selbst feiert oder anfängt zu schunkeln, dann haue ich dem eins in die Fresse – von wegen Stimmung. Und dann bin ich über die Tische gesprungen von der Bühne aus, das waren alles so Gartenscheißklapptische, und den Leuten ist das Herz im Leibe stehen geblieben. Natürlich ist nichts passiert, weil es in solchen Situationen immer so ist, als hätte man Engelsflügel oder als wären die Schutzengel vorne mit Feuerwehrhelm im Einsatz, um einen von Tisch zu Tisch zu liften. Ich hüpfe also zielstrebig in die Mitte zu den großen Alustützen, die das Zelt tragen. Daran halte ich mich fest und singe. Die Technik hab ich auf der Bühne stehen gelassen. Mein Pianist hat dort irgendwas weitergespielt, was auch immer. Er war völlig aus dem Häuschen, als ich von der Bühne verschwand, so mitten in die Leute. Das Gemurmel und Gemurschel wurde immer lauter, und dann hab ich an dieser Zeltstütze die Sektflasche zerschlagen, dass die Scherben nur so rumspritzten. Keiner der Umsitzenden hat mehr gewagt, Luft zu holen. Ich hatte diese abgewrackte Flasche in der Hand, klassisch am Hals zerbrochen, die scharfen Zacken am Ende. Das hab ich ausgekostet, bis zum Exzess. Nur ich wusste von vornherein, dass ich an der entscheidenden Stelle im Lied – bei: »Ich liebe dich so« – den Flaschenhals einfach fallen lassen würde, völlig unspektakulär: plumps, in den Sand runter. Aber das ahnte im Publikum ja keiner. Die haben alle gedacht, dem Nächsten fährt diese ausgerastete Kuh an die Gurgel.
Paris
    Im Frühjahr 1984 lud mich eine Freundin ein, mit ihr ein paar Tage zu ihren Freunden nach Paris zu fahren. Wir nahmen den Frühzug von Frankfurt, und um nicht der Langeweile anheimzufallen, mehr aber wahrscheinlich der Aufregung, nahm ich neben diversen Schokoriegeln auch noch mein Strickzeug mit. Ich saß gerade an einem Pullover, den ich tatsächlich ernsthaft getragen hätte, wenn nicht …
    In unserem Großraumabteil saß auch eine kleine Gruppe von Abiturienten, die anscheinend ihren Schulabschluss in Paris feiern wollte. Ein blonder, hagerer Jüngling mit bräunlichem Teint und unglaublich langen Wimpern, also wirklich wahnsinnig schönen schwarzen Wimpern, verfing sich ständig in meinem Blick, sodass ich bei meinen
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