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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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der Trasse hängen nicht angeschlossene Kabel. Der Schienenverkehr ist nur an einigen Stellen möglich und sehr umständlich. Die meisten Bewohner an der Trasse sind längst abgehauen. Wer sich dieses Denkmal des Sozialismus anschauen will, muss sich beeilen: Vielleicht kann man schon morgen die Magistrale nur noch zu Fuß erreichen. Hier ein kleiner Reiseführer, zusammengestellt
von einigen abenteuerlustigen Freunden, die regelmäßig ihre Ferien an der BAM verbringen:
    Am besten fliegt man über Japan dorthin. Von dort aus dann mit dem Schiff bis zum Punkt Sowjetskaja-Gawan. Weiter geht es mit Güterzügen bis Tinda, der Hauptstadt der BAM. Das ist in sechs Tagen zu schaffen. Man kann auch von der anderen Seite kommen: mit dem Flugzeug nach Jakutsk, dann mit einer Fähre den Fluss Lena aufwärts nach Kunerma und weiter mit dem Zug über Severobaikalsk – Chani – Uktali bis Tinda. Zweimal am Tag hält dort der Zug. Auch diese Reise dauert etwa sechs Tage.
    Die riesigen Bahnhöfe werden nachts geschlossen. Man kann aber in den Zügen übernachten. Es ist alles teurer als in Moskau. Man fährt am besten tagsüber, damit man auch etwas sehen kann. Von Tinda verkehrt einmal am Tag ein Passagierzug nach Komsomolsk  – mit fünfzehn Kilometern pro Stunde, die ideale Geschwindigkeit, um die wilde BAM-Landschaft zu bewundern, die bereits in zig Romanen, Gedichten und Liedern verewigt wurde. Die Magistrale, an der siebzig Jahre lang gebaut wurde, die mehrmals mit Pomp eröffnet und sofort danach wieder vergessen, verachtet, verpönt wurde, die nicht funktioniert und doch irgendwie funktioniert. Ein grandioses Mahnmal des menschlichen Willens und
seiner Möglichkeiten. Aber was soll’s. Sie fahren ja ohnehin nicht hin. Auch in Russland wird immer weniger über die BAM nachgedacht, aber alle kennen das Lied, das zwei Jahrzehnte lang aus sämtlichen Radiogeräten des Landes dröhnte:
     
    Die Hymne der BAM-Arbeiter:
    Lacht doch mal, Jungs!
Unser Schicksal ist es,
Zu bauen in der Tundra
Die längste Eisenbahn;
Die Berge wegzurotzen,
Den Schneestürmen zu trotzen,
Kurz gesagt –
Wir bauen die BAM, BAM, BAM …

Die Unterwäsche des vorigen Jahrhunderts
    Auf einem großen Werbeplakat für Frauenunterwäsche lächelte uns eine nackte Frau an.
    »Wo ist hier die Unterwäsche?«, wunderte sich meine Mutter. »Sie ist absolut unsichtbar geworden, das war früher anders!«
    »Das stimmt nicht«, entgegnete ich. »Vor vielen Jahren habe ich in der Sowjetunion noch radikalere Dessousmodelle gesehen.«
    Ende der Achtzigerjahre, zu Perestroika-Zeiten, veränderte sich die wirtschaftliche Situation in Russland. Der starke Westwind brachte neue Konsumträume
für die breite Masse der Bevölkerung. Der Staat, der allein über alle Produktionsmittel verfügte, gab ein wenig nach. Und plötzlich durfte jeder Bürger eine Kooperative gründen, also zu Hause irgendetwas Harmloses basteln und die Früchte seiner Arbeit verkaufen. Das hieß noch nicht »Business«, sondern ganz bescheiden »Eigeninitiative«. Für viele junge Leute, insbesondere Studenten, bot das Kooperativegesetz eine große Chance, und so kamen Waren auf den Markt, die für die staatliche Produktion unwichtig oder einfach zu idiotisch waren: wiederauffüllbare Feuerzeuge, Mickymaus-Aufkleber, russischer Kaugummi, T-Shirts und Einkaufstaschen mit ABBA-, Boney-M.-, Jim-Morrison- oder Mick-Jagger-Konterfei, außerdem erotische Postkarten und selbst gemachte Keramik. Die wichtigste Errungenschaft dieses damaligen Kooperativehandels war jedoch, dass sie das staatliche Monopol der Frauenunterwäscheproduktion und -distribution aufbrach.
    Die Kritik an der sowjetischen Unterwäsche war jahrzehntelang ein Tabu gewesen. Man durfte über die Qualität von Schuhen oder Kleidern meckern, aber Unterwäsche konnte einfach nicht dick, warm und hässlich genug sein. Das Angebot war praktisch auf ein Modell beschränkt. Männerunterhosen waren entweder schwarz oder blau, aber immer knielang
und aus Satin. Die Frauenhöschen waren alle weiß und aus Baumwolle. Praktisch, quadratisch und gut. Außerdem gab es noch Büstenhalter aus sowjetischem Atlasstoff mit einem Dutzend kleiner Häkchen, die immer entweder absprangen oder klemmten – eine Qual für jede intime zwischenmenschliche Beziehung.
    Viele aufgeklärte junge Leute weigerten sich, sowjetische Unterwäsche zu tragen. Die Jungs boykottierten die knielangen Satinschlüpfer, hatten dafür aber keinen Ersatz und trugen deswegen
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