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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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ich dabei wenigstens etwas Vernünftiges tun, zum Beispiel Spanisch lernen. Ich kaufte mir vier CDs mit Spanisch drauf, und
fertig, los. Schon bald stellten sich die ersten Ergebnisse ein: Ich konnte Spanisch, allerdings nur, wenn ich joggte. Kaum blieb ich stehen, war das Spanisch wieder weg. Joggte ich weiter, kam muy bien espanol zurück, zu Hause – absolute lo siento . Das ist doch nos perdimos ? Werde ich jetzt durch Spanien joggen müssen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen?
    Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass die chinesischen Turnschuhe an allem schuld waren. Mein ganzes Spanisch steckte in ihnen. Ich suchte vergebens den Schuhladen, um den Verkäufer zu fragen, wie ich mein Spanisch aus seinen Schuhen wieder herauskriegen könnte, der war aber anscheinend umgezogen. Nur eine »Blume 2000« blühte in seinem Geschäft.

Der letzte Putsch des vorigen Jahrhunderts
    Die Nachricht vom Putsch erreichte uns mitten beim Tapezieren. In einem alten Haus im Prenzlauer Berg hatten mein Freund Andrej und ich eine Wohnung renoviert – unsere erste in Berlin. Die Wohnung war gut geschnitten und sehr preiswert, sie hatte nur einen Nachteil: ein großes Loch in der Decke. Nicht nur wir waren davon betroffen, sondern auch unsere Nachbarn über uns, die immer wieder zu uns herabstürzten. Nach einer langen Diskussion, wer von uns nun diesen Mangel beheben sollte, wurde das Problem zu Gunsten beider Parteien gelöst. Wir verpflichteten
uns, die Decke mit einer Tapete zu überkleben, und die Nachbarn, einen großen Schrank auf das Loch im Boden zu stellen.
    Am neunzehnten August begannen wir mit der Arbeit. Andrej rollte die Tapete aus, beschmierte sie mit Kleister und reichte mir das nasse Stück. Ich stand auf einer alten wackeligen Leiter und versuchte, mit beiden Händen und dem Kopf die nasse Tapete an der Decke zu befestigen. Es war schwieriger als fliegen. Die Tapete stürzte immer wieder ab. Wir blieben jedoch hartnäckig und versuchten es immer weiter. Eine tapezierte Decke hatten wir zum ersten Mal in Berlin gesehen, bei uns in Russland hätte man so etwas nicht für möglich gehalten. Wir wollten uns in die neue Gesellschaft integrieren und dachten, wenn die Deutschen alle ihre Decken mit links tapezieren, dann müssten wir das auch können.
    Nach zwei Stunden auf der Leiter war ich von Kopf bis Fuß voll mit Tapetenkleister und hätte mich selbst an der Decke festkleben können. Da kam plötzlich im Rundfunk die Nachricht, in Moskau werde geputscht und Michael Gorbatschow, der Hoffnungsträger der jungen russischen Demokratie, werde mit seiner Frau zusammen auf der Krim in seiner Sommerresidenz bei Faros gegen seinen Willen festgehalten. Seine engsten Freunde und Kollegen, unter anderem sein Stellvertreter
und der Verteidigungsminister, hätten ihn verraten und sich zu einer Übergangsregierung namens GKCHP – staatliches Komitee des Ausnahmezustandes  – zusammengeschlossen. Im Fernsehen verkündete man dann den Ausnahmezustand. Die Armee kam aus dem Wald und rückte gegen die Großstädte vor. Die Panzer der berühmten Taman-Division rollten durch Moskau. Die Fernsehanstalt war von Kommandos der Sicherheitskräfte besetzt worden.
    Wir ließen alles stehen und liegen und gingen an die frische Luft. Viele Russen im Prenzlauer Berg rannten in Scharen von einer Telefonzelle zur anderen und telefonierten und telefonierten. Keiner von uns hatte damals einen Telefonanschluss zu Hause, außerdem boten die damals an jeder Ecke stehenden ostdeutschenTelefonzellen einen seltenen Luxus: Man konnte von dort stundenlang umsonst nach Russland telefonieren. Dazu brauchte man nur mit einem Stück Klebeband eine Angelschnur an einem Groschen zu befestigen und fertig war die Telefonangel. Der Zaubergroschen blieb irgendwo im Automat stecken, dieser gab daraufhin ein seltsames Ticken von sich, als würde er andauernd nach dem Groschen schnappen. Die Angelschnur musste man irgendwo außen am Automaten festmachen, danach konnte man so
lange telefonieren, bis dieWarteschlange auf der Straße die Geduld verlor und einen aus der Zelle zerrte. Alle unsere Landsleute in Berlin hatten damals so eine Telefonangel in der Tasche.
    Auch Andrej und ich gingen sofort zu einer Telefonzelle. Wir machten uns Sorgen um unsere Freunde und Verwandten in Russland. Allerdings waren alle Zellen schon besetzt, die Telefone liefen heiß. An diesem Tag war es fast unmöglich, nach Russland durchzukommen. In vielen
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