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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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oder aus dem Boden, aus kleinen Schlüsselanhängern oder Halsketten. Sie kommt aus dem Nirgendwo. Vor kurzem, als ich im Kino die Toilette aufsuchen musste, kam die Musik aus dem Klo. Auch die Nachrichten kamen aus dem Klo. Danach warnte mich eine höfliche männliche Stimme von unten, der Film würde in fünf Minuten beginnen. Der Fortschritt ist unaufhaltsam. Bald wird man auch den Film in der Toilette übertragen.
    Oft kann ich die Musikquelle überhaupt nicht mehr festmachen. Das beunruhigt mich. Das Altern fängt damit an, dass man nicht mehr kapiert, wo die Musik spielt. Neulich saß ich in der U-Bahn. Es war alles wie immer, der Waggon ziemlich überfüllt. Links von mir saß ein Mann mit einem Gammelfleisch-Döner in der Hand, rechts eine Gruppe Teenager, die nur dann miteinander sprechen konnten, wenn sie weit voneinander weg saßen. Der kahle Mann in grüner Jacke mir gegenüber trank ein Bier, dabei hörte er Musik. Man konnte den Rhythmus sogar noch aus zwei Metern Entfernung mitbekommen. Tita, tati, ups-ups … – keine Spur von Kopfhörer, kein CD-Player, kein iPod. Dabei nickte er heftig mit dem Kopf im Takt der Musik und wippte mit dem Fuß.
Als ehemaliger Tontechniker konzentrierte ich mich auf die Geräusche, ich wollte unbedingt verstehen, mit welcher Art von Tontechnik ich es hier zu tun hatte.
    Bald hatte ich keine Zweifel mehr, die Musik kam aus dem Inneren des Mannes. Er hatte sie anscheinend aus dem Netz in sich heruntergeladen und spielte jetzt die Titel im Kopf ab. Oder etwa doch nicht im Kopf? Ich hatte das Gefühl, eine wichtige Audio-Neuerfindung verpasst zu haben. Die Menschheit war gerade dabei, sich in neue virtuelle Kommunikationsnetze einspinnen zu lassen, und ich hatte es wieder einmal verschlafen. Ich beugte mich unauffällig zu dem Musikmann. Die Melodie kam eindeutig aus seinem Inneren. Jedes Mal, wenn er nickte, wurde sie leiser, wenn er seufzte dagegen lauter. Titata, tititata . Er stellte seine Bierflasche auf den Boden und stieg aus. Die Musik blieb aber im Waggon. Falsch geraten, dachte ich, setzte mich zu der Flasche und warf einen Blick hinein: Sie war leer.

Idole
    Viele Künstler mögen ihre Fans nicht. Sie wollen ihre Werke in der Öffentlichkeit nicht signieren und versuchen, gleich nach der Veranstaltung durch eine Hintertür zu verschwinden. Sie haben gute Gründe dafür. Sie wissen, dass ihre größten Fans gleichzeitig ihre gefährlichsten Feinde sein können. Bevor John Lennon umgebracht wurde, signierte er dem Mörder eine Platte. Der Schachweltmeister Garri Kasparow signierte einem Studenten sein Schachbrett.
    »Ich vergöttere Sie als Schachspieler, aber nicht als Mensch«, sagte der Student und schlug Kasparow das Brett über den Kopf.

    Der Weltmeister kam mit einer leichten Gehirnerschütterung davon.
    »Ich bin froh«, gab er nachher in einem Interview zu, »dass bei uns in der Sowjetunion Schach und nicht Baseball als Volkssport fungiert.«
    Niemand ist vor der Begegnung mit dem ganz großen Fan sicher. Ich schreibe meist sehr dünne Bücher und muss daher keine Angst haben, mit der eigenen Taschenbuchausgabe verdroschen zu werden, trotzdem schlägt mein Herz manchmal schneller, wenn mir meine Leser über den Weg laufen. Neulich kam einer von hinten und tippte mir auf die Schulter, es war gut nach Mitternacht.
    »Ich mag Ihren Stil, ich schneide seit Jahren alle Ihre zitty-Kolumnen aus. Trotzdem muss ich Ihnen eine Frage stellen.«
    Endstation, alles aussteigen, dachte ich, das ist er, mein ganz großer Fan.
    »Ist es schwer, so zu schreiben, wie Sie es tun?«, fragte mich der Unbekannte.
    In einer solchen Situation muss man schnell handeln.
    »Nein«, sagte ich, »das ist ganz leicht.«
    »Die Antwort ist richtig«, flüsterte der Fan und verschwand in der Dunkelheit.
    Ich war stolz auf meine eigene Höflichkeit. Die Idole
meiner Jugend waren viel hämischer, die meines Vaters sowieso. Er mochte zum Beispiel den russischen Sänger und Schauspieler Wladimir Wissotzki, dessen verrauchte Stimme jahrzehntelang in jedem Wohnzimmer des Landes zu hören war. Wissotzki galt vielen Männern als Vorbild, die Frauen lagen ihm zu Füßen. Er war mit einer französischen Schauspielerin verheiratet, raste in einem weißen Mercedes durch die Stadt und hatte gleichzeitig den Ruf eines Dissidenten. Die Regierenden suchten seine Nähe, er verachtete sie und geißelte die sozialistische Unfreiheit, natürlich allegorisch:
    Ja, jetzt ist Wolfsjagd angesagt,
Uns jagen sie
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