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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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kenntnisreich.
    »Wie wäre es zum Beispiel mit einem Hut, der unsichtbar macht?«, witzelte ich.
    »O ja, den brauchen wir unbedingt, kauf uns einen Hut, der unsichtbar macht!«, schrien beide Kinder.
    »Den hätte ich selbst gern«, konterte ich.
    Wir schwiegen eine Weile und überlegten uns dann, was für Schweinereien man alles mit einem solchen Hut anstellen könnte. Man könnte damit jede Art von Ausgrenzung und Rassismus zunichtemachen, an einem Frauentag in die Sauna gehen zum Beispiel, dachte ich.
    »Ich wäre im Judo praktisch unbesiegbar«, testete Sebastian neue Perspektiven aus. »Ich könnte sogar den Trainer verhauen.«
    »Und ich könnte mich in die Sudoku-Fabrik einschleichen und alle Auflösungen für Mama abschreiben, damit sie sich nicht jeden Abend so abquält«, meinte Nicole.

    Ich zwang die Kinder aus der Traumwelt zurück in die Realität. »Dieser Zauber hat noch niemandem geholfen«, klärte ich sie auf. »Als unsichtbarer Kämpfer kannst du beim Judo zwar nicht verlieren, aber auch nie gewinnen. Wer will schon einen unsichtbaren Sieger haben? Und bei Sudoku stehen die Auflösungen immer auf der letzten Seite des Heftes. Das darf ich euch wahrscheinlich nicht sagen, das ist eine geheime Erwachseneninformation, aber ihr seid schon erwachsen genug, um mit diesem Wissen zu leben.«
    »Weiß Mama Bescheid?«, fragte Nicole unsicher.
    »Natürlich weiß Mama Bescheid, sie will aber selbst die Lösungen finden, sonst würden die Rätsel keinen Spaß machen.«
    »Kann sich ein Mensch überhaupt unsichtbar machen?« , fragte Sebastian philosophisch.
    »Theoretisch schon«, erklärte ich. »Wenn man zum Beispiel mit einer Videokamera das Bild hinter einem Menschen filmt und dann mit geringer Zeitverzögerung das Gefilmte auf diesen Menschen projiziert, wird er absolut unsichtbar. Außerdem gibt es Flugzeuge, die für die Raketenabwehr unsichtbar sind, weil sie keine scharfen Kanten haben und kein Licht reflektieren. Oder die russischen Spione im Ausland: Sie benutzen eine Art Zauberwodka, der sie für alle Nichtrussen unsichtbar macht. Und sicherlich gibt es
auch Zauberkleider. So hatten wir eine Zauberunterhose in der Armee. Es war eine sportliche weiße Unterhose mit einem Delfinmuster drauf. Diese Unterhose wurde im Wirtschaftszimmer unserer Einheit in einem Metallschrank aufbewahrt und wie das goldene Vlies gehütet.«
    Der Verantwortliche für das Wirtschaftszimmer war ein Usbeke namens Beibut. Jeder Soldat, der sich aus der Armee verabschiedete, bekam von Beibut diese Unterhose mit auf den Weg. Er musste aber versprechen, sie unverzüglich wieder zurückzuschicken, sobald er zu Hause war. Generationen von Soldaten sind in dieser Delfinunterhose nach Hause gefahren. Mir war der Sinn dieser skurrilen Soldatensitte bis zu meinem letzten Tag unklar. Der normale sowjetische Soldat hatte eigentlich keine normalen Unterhosen an. Im Winter trug er hässliche lange Winterhöschen unter der Uniform, mit Schnürsenkeln unten und einem großen Knopf vorne, im Sommer breite schwarze, die ihm fast bis zu den Knien reichten. Die schicke Unterhose aus dem Wirtschaftszimmer bedeutete einen ersten Schritt ins zivile Leben. Ich weigerte mich trotzdem, sie an meinem letzten Tag in der sowjetischen Armee anzuziehen.
    »Dummkopf!«, regte sich Beibut auf. »Und wenn du auf dem Weg nach Hause eine Frau kennenlernst?
Wenn ein romantisches Abenteuer entsteht und du keine anständige Unterhose anhast?«
    »Was für ein romantisches Abenteuer? Es sind drei Stunden bis zu mir nach Hause. Und ich habe zwei Jahre im Wald hinter mir, ich will mich erst einmal anständig waschen.«
    »Pessimist!«, schimpfte Beibut und drückte mir trotzdem die Delfinunterhose in die Hand. »Jeder, der diese Unterhose anhatte, hat ein Mädchen kennengelernt!« Er zeigte mir die Innenseite. Sie war voller Eintragungen mit Tinte: »Kirill und Natascha« stand da und: »Nikolai und Lena, Sommer 1982«. Die Zauberunterhose zog also die Mädchen zu dem Soldaten, der sie anhatte. Ich ekelte mich trotzdem davor und trug sie nicht – weiß also gar nicht, was mir entgangen ist.
    Doch mein Glaube an die Zauberkraft mancher Kleidungsstücke ist ungebrochen. Letztes Jahr kaufte ich mir Turnschuhe einer mir unbekannten chinesischen Marke. Der Kauf war eine Folge meines veränderten Lebenswandels. Vor kurzem hatte ich aufgehört zu rauchen und angefangen zu joggen. Wenn schon, denn schon, dachte ich. Wenn ich schon wie ein Blöder jogge, dann möchte
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