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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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niemals in der Buchhandlung, sondern nur aus der Hand eines Freundes bekommt. In der freien Welt, in der man jedes Buch per Internet zu sich nach Hause bestellen kann, lese ich zwar weiter, aber ohne den damaligen Enthusiasmus. Einige wenige Samisdat-Hefte von damals werden bei uns im Bücherregal sorgfältig gehütet. Die Tinte ist inzwischen fast gänzlich verblasst, was diese Bücher auf Ewigkeit zu einem unlösbaren Rätsel macht. Ein Außenstehender würde mittlerweile nicht einmal mehr den Titel entziffern können. Nur der ganz enge Familienkreis weiß, was auf diesen Blättern wirklich gedruckt ist: Ossip Mandelstam, Der Stein , Kurt Vonnegut, Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug und Wladimir Nabokov, Die Gabe .

Eisenbahn
    Das Lied der BAM-Arbeiter:
    Lacht doch mal, Jungs!
Unser Schicksal ist es,
Zu bauen in der Tundra
Die längste Eisenbahn;
Die Berge wegzurotzen,
Den Schneestürmen zu trotzen,
Kurz gesagt –
Wir bauen die BAM, BAM, BAM …

    Die Baikal-Amur-Magistrale, kurz BAM genannt, war und ist immer noch das größte Denkmal sozialistischer Planwirtschaft und mit dem popeligenTransrapid gar nicht zu vergleichen. Die erste Idee, vom Ural bis zum Pazifik eine Eisenbahnlinie zu bauen, wurde in Russland schon im neunzehnten Jahrhundert intensiv diskutiert. Es ging vor allem darum, Sibirien zu erschließen, ein großes und reiches, aber wenig bewohntes Stück Russland. Aber erst nach der Revolution, als überall im Land große Aufbruchsstimmung herrschte und nichts unmöglich schien, beschloss Stalin, mit dem Bau der BAM zu beginnen. Nach dem Motto »Lange Rede, kurzer Sinn« schickte er 1932 ohne weitere Umstände vierhunderttausend Gefangene in die Tundra. »Alle reden von der Zukunft, wir machen sie!«, sagte er damals, und so bekam das Projekt in den sowjetischen Zeitungen die Parole »Der Weg in die Zukunft«.
    Bereits drei Jahre später, 1935, war die BAM zum ersten Mal fertig. Sie ging von dem Amur-Dorf Tinda an einem Punkt nahe der chinesischen Grenze, wo sie die transsibirische Eisenbahn kreuzte. An dieser Kreuzung wurde das Dorf Bam gegründet. Danach ging es aber immer weiter. Millionen Menschen haben an dieser Baustelle des Jahrhunderts mitgemischt: Gefangene, Komsomolzen, Enthusiasten und einfache
Arbeiterfamilien, die aus allen Republiken der Sowjetunion des Geldes wegen dorthin fuhren.
    Einst als strategisches Double der transsibirischen Eisenbahn im Falle eines Krieges mit China geplant, bekam die BAM mit der Zeit immer neue Bedeutung. Je weiter die Gleise gingen, desto mehr verband man mit ihnen die sozialistische Eroberung der Welt. Die Magistrale sollte nicht einmal am Pazifischen Ozean scheitern, sondern weiter nach Sachalin und dann Hokkaido führen, über das japanische Meer und weiter nach Australien, über den Südpol und dann irgendwie wieder nach Sibirien zurück.
    Spätestens 1990, nach der Perestroika, verlor die BAM ihre Bedeutung als Vorposten der sozialistischen Planwirtschaft. Sie wurde für unrentabel erklärt und die Arbeiten auf Eis gelegt. Seitdem streiten sich die Geister. Die einen meinen, die Magistrale sei immer noch nicht zu Ende gebaut, da die Gleise irgendwo in der Schneewüste enden, die anderen behaupten, die Magistrale sei schon mehrmals zu Ende gebaut worden und bleibe nach wie vor ein vielversprechendes Projekt für Investoren aus aller Welt. Beide Seiten scheinen in diesem Streit recht zu haben. Bei solchen globalen Bauvorhaben ist es nicht leicht festzustellen, wo und was das Ende ist. Die Erde ist nämlich rund.

    Der größte Fehler beim Bau der BAM war, dass man sich zu sehr auf die Propaganda und die reine Trasse konzentrierte, also darauf, sich durch die Berge und Wälder zu schlagen und vor allem die Gleise immer weiter zu ziehen. Auf diese Weise wurde die Arbeit bis zum Pazifik geschafft. Selbst nachdem die Magistrale für unrentabel erklärt worden und viele Arbeitsbrigaden abgezogen waren, wurde am großen, hundertachtzig Meter langen Mauritunnel weitergearbeitet: einen halben Meter pro Woche, bis im Jahr 2002 der letzte goldene Bolzen in die Eisenbahnschwelle geschlagen wurde. Dabei blieb jedoch die Infrastruktur auf der Strecke. Man hätte noch Städte oder kleine Dörfer gründen, bevölkern, einrichten und regelmäßig Züge mit wichtigen Gütern in beide Richtungen fahren lassen müssen, damit die BAM auch wirklich lebte. Nun stehen bloß alle fünfhundert Kilometer riesige leere Bahnhöfe in der Tundra. An den Masten links und rechts
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