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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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schreiben, in einer anderen lagen schicke Bildbände wie Die dreifachen Helden der Sowjetunion , Gagarin – einer von uns und Pioniere – Partisanen . In unserer Schule bekam jeder Streber nach Beendigung der zehnten Klasse das Fotoalbum Die Schriftstellerin Maria Poleschajewa auf dem XXII. Parteitag der KPdSU geschenkt. Es galt als Quelle des Wissens und als bestes Geschenk gleichzeitig. Man könnte sagen, diese Bände waren die Comichefte der Sowjetunion und die Schriftstellerin Maria Poleschajewa Superman und Batman in einer Person.
    In jeder Buchhandlung gab es auch noch eine spezielle Abteilung für politische Literatur, die dicken Romane von Leonid Breschnew und dazu ein paar dünne Hefte von Lenin: Was heißt Sowjetmacht?, Wie ist der sozialistische Wettbewerb zu organisieren und Der Linksradikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus . Jeder wusste, dass Lenin eigentlich viel mehr geschrieben hatte, sein vollständiges Werk zählte über fünfzig Bände, die aber wegen ihrer Widersprüchlichkeit verboten waren. Sein Nachlass wurde in diese kleinen Groschenhefte gepackt, die man eigentlich ruhigen Gewissens auch hätte verbieten können, denn kein Mensch hat sie jemals gekauft.

    Die wichtigsten literarischen Werke der Vergangenheit und der Gegenwart wurden in unseren Literaturlehrbüchern kurz und knapp zusammengefasst. Sie mussten auswendig gelernt werden. In der fünften Klasse lernten wir den unsterblichen Puschkin:
    Ich sitze hinter Gittern
Im feuchten Knast,
Unfrei geborener
Junger Spatz …
    Es klang immerhin besser als das Gedicht von Dschambul Dschabajew mit dem Titel »Das große Stalin-Gesetz«, das unsere Eltern in der Schule auswendig lernen mussten:
    Fliege, mein Lied, durch Dörfer und Steppen,
Höre das Volk die Stimme Dschambuls,
Ich lobe das größte der Weltgesetze –
Das Stalingesetz. Punkt.
     
    Gesetz, das die Freude ins Haus bringt,
Gesetz, das die Ernte in Schwung zwingt,
Gesetz, das uns Wissen gibt und Kraft,

Gesetz, das uns frei und glücklich macht …
    In den Achtzigerjahren jedoch gab es viele Umwege, an die begehrenswertesten Bücher heranzukommen. Es gab zum Beispiel ein spezielles Programm – Bücher gegen Altpapier. Man bekam für zwanzig Kilo Altpapier die Möglichkeit, einen Roman von Maurice Druon oder Angélique und der König an einer Altpapier-Sammelstelle zu erwerben. Mit dieser Angélique ging man dann zu der sogenannten Tauschbörse des Buchliebhaberklubs, wo man sie mit ein wenig Glück gegen ein richtiges Buch tauschen konnte – von Bulgakow oder Charms zum Beispiel. Eine andere Möglichkeit bestand darin, auf dem Schwarzen Markt für viel Geld ein Abonnement für die zwölf Bände von Jack London zu kaufen und diese dann ebenfalls gegen richtige Bücher zu tauschen. Oder eben im Selbstverlag Bücher zu produzieren und sie zum Lesen weiterzugeben. Auf Russisch hieß das »Samisdat«.
    Heute wird oft behauptet, der Samisdat sei eine Erfindung der Dissidenten gewesen, die gegen das System kämpften und auf der Schreibmaschine ihre Proklamationen vervielfältigten. In Wirklichkeit wurde im Land der Leser, die immer zu wenig zu lesen hatten, alles selbst verlegt, sogar Angélique und billigste
Science-Fiction-Romane. Diese per Hand angefertigten Bücher genossen sehr großen Respekt, wurden sorgfältig behandelt und weitergegeben. So bekam ich 1985 von meinem Arbeitskollegen den Orwell-Roman Die Farm der Tiere nur für eine Nacht und mit strengen Anweisungen, das Buch nicht ohne Handschuhe anzufassen. »Wehe, wenn nur ein einziger Bierfleck auf dem Papier landet, dann kriegst du nie wieder ein Buch von mir, dann bist du raus!«, warnte er mich. Außerdem durfte ich niemandem von dem Buch erzählen. Die Orwellsche Schweine-Revolution hat mich aber nicht sonderlich beeindruckt. Unter anderen Umständen hätte ich das Buch bestimmt nicht zu Ende gelesen, aber im Untergrund ist jedes Buch eine Offenbarung, wegen der Geheimnistuerei habe ich dann sogar 1984 gelesen.
    Auf durchsichtigen Seiten lasen sich Richard Bach, Steven King und Percy Shelly in einer Nacht weg. Außerdem kamen durch den Samisdat neue Bekanntschaften zustande, fremde Menschen rückten plötzlich zusammen, weil sie durch ein Buchgeheimnis miteinander verbunden waren. So gewann man neue Freunde und fühlte sich einem engen Kreis der Wissenden zugehörig. Durch den Samisdat lernte ich die Geschichten anderer zu schätzen und selbst welche zu erzählen, ich lernte, dass man ein richtiges
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