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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Städten hatten die Putschisten überdies die Telefonnetze gekappt. Der Putsch war an sich für niemanden in Russland eine Überraschung, alle hatten ihn erwartet – außer Gorbatschow anscheinend. Es war ein regelrechtes Familiendrama: Gorbatschows Freunde waren ihm untreu geworden, sie gingen mit einer Militärdiktatur fremd, und alle Welt wusste Bescheid, nur der Betrogene nicht.
    Mein Freund Kolja, der in Moskau in einem Haus mit vielen Offizieren wohnte, hat mir einmal erzählt, wie er Ende Juni im Treppenhaus seinem Nachbarn, einem Stabsoberst, begegnet war. Der Offizier veranstaltete gerade eine Party bei sich, und aus seiner Wohnung kam laute Musik. Er war ein wenig betrunken und bat Kolja um eine Zigarette. Mein Freund holte die Schachtel aus der Tasche.

    »Darf ich mir zwei nehmen?«, fragte ihn der Oberst.
    »Nehmen Sie doch gleich drei«, antwortete Kolja freundlich.
    »Bald ist Putsch, wir werden dich nicht vergessen«, sagte der Offizier, klopfte meinem Freund auf die Schulter und ging in seine Wohnung zurück.
    Große Teile der Armee waren unzufrieden, sie wurden durch die neue Reformpolitik benachteiligt, und Gorbatschow war bei all seinen Talenten und Visionen eigentlich doch ein Weichei. Ihn auf der Krim festzuhalten, war bestimmt einfacher, als die nasse Tapete an der Decke meiner ersten Berliner Wohnung zu befestigen.
    Später am Abend des neunzehnten August wurden die Russenschlangen vor den Telefonzellen im Prenzlauer Berg und sicher auch anderswo langsam kleiner. Viele der politisch engagierten Emigranten pilgerten zur russischen Botschaft Unter den Linden. Dort stellten sie Kerzen an die lange Mauer vor dem Gebäude, die dadurch mit der Zeit ganz schwarz vor Ruß wurde. Die Versammelten beerdigten schließlich vor der Botschaft die junge russische Demokratie. Spät in der Nacht war die Telefonleitung nach Moskau plötzlich wieder frei. Andrej rief seinen Vater an, ich meine Cousine.

    Sie erzählte mir: »Auf den Straßen stehen überall Panzer, die Soldaten sind freundlich und beruhigen die Zivilbevölkerung, sie würden unter keinen Umständen schießen, sagen sie.« Im Fernsehen liefe den ganzen Tag Schwanensee , und zwar ohne Bild, nur die Musik. Die Putschisten hätten dem Volk nichts mitzuteilen und ließen deswegen Tschaikowski rauf und runter spielen. Die Stimmung sei aber im Allgemeinen gut, jedoch wisse keiner, wie es weitergehe. Als Erstes hätten sich die Menschen spontan zu einem Generalstreik entschieden – keiner hätte gearbeitet.
    Für Andrejs Vater wurde der Putsch zu einer echten Tragödie. Seit einer Ewigkeit hatte er von einem ausländischen Auto geträumt. Jahrelang hatte er Geld gespart, und sich endlich, im Sommer 1991, kurz vor dem Putsch, einen alten, kaum noch fahrbaren Mazda 323 auf dem Automarkt gekauft. Anschließend brachte er ihn zu einem Freund in die Werkstatt. Der Automechaniker sollte den Wagen überprüfen und neu lackieren. Am Tag des Putsches war der Wagen fertig. Der Mazda sah jetzt richtig teuer aus. Voller Stolz saß Andrejs Vater am Lenkrad und fuhr nach Hause, der Putsch interessierte ihn nicht. An einer Ampel hielt er hinter einer Panzerkolonne. Als die Ampel auf Grün umsprang, gab der Panzer vor ihm Gas. Der Mazda wurde von einer heißen Auspuffwolke
umhüllt und schmolz in wenigen Sekunden dahin. Erst warf er Blasen, wobei die silberne Farbe schwarz anlief und sich mit der schmelzenden Gummidichtung der Frontscheibe vermischte. Dann verzog sich auch noch das Blech, und die Motorhaube sprang auf. Andrejs Vater bekam beinahe einen Herzanfall. Er hechtete aus dem Wagen und lief dem Panzer hinterher. In seiner Wut hätte er die Hundertachtzig-Millimeter-Kanone wahrscheinlich mit bloßen Händen abgebrochen, aber die Panzer waren schneller als er. Als gebrochener Mann kehrte er zu seinem Mazda zurück.
    Wir telefonierten die ganze Nacht durch. Das Leben in dem vor kurzem noch wie eingeschlafen wirkenden Moskau schien auf vollen Touren zu laufen. Mein politisch engagierter Schwager ging zusammen mit seinen Freunden zum Barrikadenbau an den Kreml. Sie versuchten, einige Linienbusse umzukippen, damit die Panzer nicht zum Roten Platz vordringen konnten. Aber die Busse waren viel zu schwer. Daraufhin gingen sie zu ihren Gegnern, den Soldaten, die sie baten, ihnen für ein paar Flaschen Wodka zu helfen. Die Soldaten schoben mit ihren Panzern die Busse zusammen, so dass am Ende eine anständige Barrikade gegen das Militär daraus entstand.

    Mein Freund
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