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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nicht für den hohen Herrn, sondern für das Göttliche in der Kunst!«
    Sie klatschte in die Hände. Das war das Zeichen, daß es ab jetzt kein eigenes Leben mehr gab, sondern nur noch die Welt aus Tönen und Bewegung. »In einer Viertelstunde fangen wir an!«
    Die Mädchen liefen aus dem kleinen Übungssaal, als habe man sie hinausgetrieben. Umziehen, das Tutu, den kurzen Spitzentanzrock, überstreifen, die Spitzenschuhe anschnallen, ein wenig Schminke ins Gesicht, schließlich kam ja der Zarewitsch … wie schnell ist eine Viertelstunde vorbei! Unpünktlichkeit war etwas, was selbst eine Tamara Jegorowna aus der Ruhe brachte.
    »Das Fundament der Kunst ist Disziplin!« lehrte sie. »Wer sie nicht kennt, wird ewig schwanken und eines Tages zusammenbrechen!«
    Die Stimme der Ballettmeisterin übertönte das Schnattern der weglaufenden Mädchen. »Matilda!« rief sie. »Du bleibst hier …«
    Ein Mädchen in einem schwarzen Baumwolltrikot, mit dicken Wollstrümpfen an den Waden, blieb in der Tür stehen und wartete, bis alle den Raum verlassen hatten. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie mit einem breiten roten Band im Nacken zusammengehalten und verknotet.
    Matilda war ein mittelgroßes schlankes Mädchen mit langen Beinen, mit schmalen Hüften und einer festen Brust, die sich durch das Trikot drückte. Ihr Gesicht fiel sofort auf; es besaß das Oval eines Engels, wie Botticelli sie einmal malte, aber dieses Ebenmaß wurde aufgehoben durch die deutlich sich hervorhebenden Wangenknochen und vor allem durch die Augen, die etwas schräg standen. Sie vermittelten einen Hauch von asiatischer Weite und waren von einem rätselhaften Graubraun, das sich bei bestimmten Anlässen bis in die Nähe von Schwarz verändern konnte.
    Matilda machte, wie es sich vor der strengen Meisterin gehörte, wenn man von ihr angesprochen wurde, einen Knicks und wartete stumm an der Tür.
    »Komm her«, sagte Tamara. Ihre Stimme klang mütterlich. Es war kein Befehl.
    Das Mädchen trat näher mit diesem eigenartigen schwerelosen Gang der Tänzerinnen, einen Fuß vor den anderen setzend, als sei ihr Körper nur noch ganz Tanz. Es war ein lautloses Dahingleiten, wobei sich die Beinmuskeln deutlich spannten.
    Vor Tamara blieb sie stehen und sah sie aus ihren rätselhaften Augen abwartend an.
    »Du wirst heute deine Vorpremiere haben«, sagte die Jegorowna milde. »Ich werde dich dem Großfürsten vorstellen. Bilde dir nichts darauf ein, es ist nur notwendig, weil du Weihnachten in der Oper zum erstenmal ein Solo tanzen sollst. Du weißt, daß du noch viele Schwächen hast?«
    »Ich weiß es, Mama«, erwiderte das Mädchen demütig. Alle nannten hier Tamara nur ›Mama‹. Sie waren ihre Kinder, und was sie später im Leben einmal werden sollten, verdankten sie nur ihr. »Der jete passe macht mir noch Schwierigkeiten.«
    »Nicht nur der! Sei nicht so eingebildet, Matilda! Komm mit, wir üben bis drei Uhr noch einmal alle Sprünge durch. Der Zarewitsch soll sehen, welch ein Zauber die menschliche Bewegung sein kann.«
    So geschah es, daß im großen Saal das Corps de ballet das zweite Bild aus Coppelia tanzte, begleitet von einem kleinen, griesgrämigen Pianisten, der unlustig auf die Tasten schlug. Er ärgerte sich darüber, daß er für ein paar Kopeken Sonderlohn noch zwei Stunden Übungsmusik spielen mußte, während nachher, wenn der Zarewitsch kam, der französische Pianist Pierre Lacombe spielen durfte, dieser eingebildete Fatzke, der überall erzählte, er habe sein Klavierspiel bei Liszt gelernt. Was natürlich gelogen war.
    Getrennt vom Corps, in einer Ecke vor einem Doppelspiegel, drehte und sprang Matilda nach den Kommandos von Tamara Jegorowna eine schwierige Figur nach der anderen. Ein Körper, der nur noch aus schnellenden Muskeln bestand …
    »Und noch einmal!« kommandierte die Meisterin und klatschte in die Hände. »Sing die Melodie leise mit, Matilda! Cambre … und passe … und fouette … und revoltade … Viel zu schwerfällig! Eine Feder mußt du sein, der Hauch eines Windes muß dich hochheben! Und noch einmal: Jete passe … grand jete en tournant … und jetzt sissonne … und noch einmal soubresaut … hopp! … Und jetzt die capriole … Halt!«
    Schwer atmend stand Matilda an der Spiegelwand. Über ihr Gesicht floß Schweiß, die Waden zitterten, die schmalen Oberschenkel bebten.
    Im großen Saal tanzte das Corps unter den wachen Augen von zwei Assistenten. Matilda hörte die Klaviermusik nicht mehr, sie hörte nur
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