Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Stimme. »Reißen Sie sich zusammen, Tamara Jegorowna, das ist der Leibnarr des Zarewitsch! Der Zwerg und Idiot Urasalin. Wie konnten Sie denken, daß so der Thronfolger aussieht …«
    Nachdem der Zwerg sich umgesehen hatte und ein Leutnant der Garde abgestiegen und zur Begleitung bereit war, erschien Nikolai Alexandrowitsch. Er stieg aus der Kalesche in der einfachen Uniform eines Hauptmanns, ein feingliedriger, fast zarter Mann mit verträumten Augen, einem gestutzten Bart und einem melancholischen Gesicht von geradezu unmännlicher Schönheit. Bisher kannte man ihn – auch die Jegorowna – nur von Bildern und Fotos. Die Maler und Zeichner glorifizierten ihn ausnahmslos als einen Heldentyp; die Fotos zeigten ihn bei Paraden, wo er kerzengerade auf seinem Rappen saß, von Orden, Epauletten und Pelzen verbrämt, ein wahrer Thronfolger, auf den Rußland stolz sein konnte.
    So mußte er auch sein, denn sein Vater, Zar Alexander III., war ein Bär von Mann, ein robuster Bursche mit den Muskeln eines Holzfällers.
    Nun sah ihn die Jegorowna in seiner wirklichen Zartheit, der Blick seiner ständig traurigen Augen traf sie, und sie sank in die Knie mit einem tiefen Hofknicks, wie sie es so oft als Ballerina getan hatte, wenn ein Mitglied des Zarenhauses zu ihr auf die Bühne gekommen war, um ihr seine Bewunderung auszusprechen.
    Nikolai blieb stehen, beugte sich vor und richtete Tamara an den Schultern auf. »Ich freue mich, Madame, das Kaiserliche Ballett besichtigen zu dürfen«, sagte er. Seine Stimme war angenehm und von warmem Klang, sie paßte zu seinen Augen und seinem ganzen Wesen. Es war die Stimme eines Schöngeistes, nicht eines Mannes, der einmal das größte Kaiserreich der Welt erben sollte. »Ich habe Sie vor zwölf Jahren tanzen sehen. Madame. Damals war ich dreizehn Jahre alt. Daß ich mich daran erinnere, mag Ihnen zeigen, wie sehr Sie mich beeindruckt haben …«
    Nun rissen Lakaien die weißen Türen der Ballettschule auf, und der Zarewitsch betrat das Gebäude. Sofort sperrten Gardereiter den Eingang ab, Polizisten vertrieben Neugierige aus der Nähe des Gebäudes.
    Die Furcht vor einem Attentat war überall spürbar, nachdem sich im Volk extreme Gruppen gebildet hatten, die den Zaren als Blutsauger beschimpften und von einer Revolution der Massen träumten. Monat für Monat zogen lange Kolonnen von Verurteilten in die sibirische Unendlichkeit, in eine Verbannung, aus der es selten eine Rückkehr gab.
    Tamara Jegorowna ging voran und führte den Zarewitsch von Raum zu Raum. Zu den Kleinsten, die noch nicht schreiben oder lesen konnten, aber ein battement oder ein developpe croise derriere beherrschten; Kinder mit dem Ernst von Erwachsenen, die an der Stange ihren Körper weich machten und vor dem Spiegel ihre Attitüde übten.
    Dann kamen die mittleren Klassen an die Reihe, die Fortgeschrittenen, die einige Schritt- und Sprungkombinationen zeigten und danach ihren Unterricht fortsetzten, wie es Tamara Jegorowna angeordnet hatte.
    »Und nun, Kaiserliche Hoheit, die Elevinnen und die Meisterklasse«, sagte sie, nachdem die Lakaien die großen weißen Türen des Hauptübungssaales aufgestoßen hatten.
    Nikolai betrat den Saal etwas scheu mit zögerndem Schritt. An der hinteren Wand des Saales stand das Corps, die Mädchen in ihren Tutus, die Männer in Trikots. Wie auf ein Kommando senkte sich wogend die Wolke aus Spitzen zu einem tiefen Knicks, die Männer neigten den Kopf, am Flügel verbeugte sich Pierre Lacombe so tief, daß man befürchtete, er verliere das Übergewicht und falle gleich nach vorn auf das spiegelnde Parkett. Diener brachten einige Brokatsessel heran, stellten sie auf und verschwanden lautlos. Die Türen schlossen sich. Sie waren allein … der Zarewitsch, Tamara Jegorowna, ein junger Gardeleutnant und der Zwerg.
    Nikolai sah sich um. Er erblickte sich in der großen Spiegelwand, was ihn irritierte. Verstohlen zupfte er an seinem Uniformrock, trommelte mit den Fingern auf seine Uniform und wartete auf eine Regung.
    Aber nichts geschah. Die Mädchen verharrten mit gesenktem Blick in dem tiefen Knicks, und die Männer wagten nicht, den Kopf zu heben, bis der Zarewitsch das erste Wort gesprochen hatte.
    Was sage ich nur? dachte Nikolai Alexandrowitsch. Ich begrüße Sie, Demoiselles und Messieurs? Ist das zu vertraut? Oder winke ich nur? Sage ich: Ich bin mit großen Erwartungen hierhergekommen; was wollen Sie mir zeigen? Oder setze ich mich einfach und nicke Madame Jegorowna zu?
    In
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher