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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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diesem Moment des Zögerns fing er im Spiegel einen Blick auf. Ein Mädchen in der ersten Reihe des Corps hatte den Kopf etwas erhoben und ihn mit großen, tiefbraunen glänzenden Augen angesehen. Sie war die einzige, die es wagte … Im tiefen Knicks verharrend, in demutvollster Haltung, war sie so kühn, den Kopf etwas in den Nacken zu legen und ihr halbes Gesicht zu zeigen. Ihre verzogene Stirn verriet die Anstrengung, die es ihr bereitete, aus diesem Blickwinkel heraus ihn anzusehen …
    Es war ein Blick, der Nikolai noch mehr verwirrte. Sein altes Leiden, seine Schüchternheit, ergriff ihn wieder. Er wandte sich sofort vom Spiegel und dem Blick des Mädchens ab, ärgerte sich über seine Verlegenheit und setzte sich ziemlich laut, mit den Stiefeln scharrend, in den Brokatsessel. Der junge Leutnant und der schreckliche Zwerg stellten sich hinter ihn.
    Tamara Jegorowna klatschte in die Hände wie immer. Es war ein Laut, der Nikolai zusammenfahren ließ, als habe man neben ihm ein Schrapnell abgeschossen. Das Corps de ballet richtete sich auf. Pierre Lacombe am Flügel spreizte die Finger wie ein großer Virtuose. Man hörte fast das Knacken seiner Fingerknochen …
    »Wenn Kaiserliche Hoheit erlauben, werden wir das zweite Bild aus Coppelia tanzen«, sagte die Jegorowna unbefangen. »Eure Kaiserliche Hoheit werden mit dem Stand der Ausbildung sicherlich zufrieden sein.«
    »Bestimmt!« antwortete Nikolai knapp. »Ich bin gespannt …«
    Pierre Lacombe griff in die Tasten. So widerlich eingebildet er auch war, spielen konnte er prächtig, das mußte man ihm lassen. Aus dem Flügel klang es wie ein ganzes Orchester.
    Das Corps de ballet nahm Aufstellung.
    Nikolai Alexandrowitsch lehnte sich zurück. Sein Blick suchte die kleine Tänzerin, die ihn angesehen hatte. Sie stand abseits, in sich versunken, bereit für ihre Soli.
    Sie ist hübsch, dachte der Zarewitsch. Sie ist wunderschön! So müssen Elfen aussehen …
    Und Matilda dachte: Wie schüchtern er ist! Wie samtweich seine Augen sind! Wie verträumt sein Blick … Er ist viel schöner als auf allen Bildern. Und ich darf für ihn tanzen …
    Es war ein Glücksgefühl in ihr, das sie noch vor ihren ersten Schritten ganz schwerelos werden ließ.

II
    Im Winterpalais, das Zar Alexander III. nur selten besuchte, weil er lieber im Anitschkowpalast am Ufer der Fontanka wohnte, wo er als Thronfolger so glücklich gewesen war, trafen sich heute in seinem mit Gemälden vollgestopften Arbeitszimmer die engsten Vertrauten mit dem Zaren. Er verurteilte den übermäßigen Prunk seiner Vorväter und nannte das Nachäffen von Versailles eine Torheit.
    Sein Bruder Nikolai Nikolajewitsch war gekommen, dieser lange, hagere Mensch, den man den längsten Bohnenstock Rußlands nannte und der die schönste Frau Rußlands besaß, Großfürstin Stana. Jeder Mann beneidete ihn um sie, was Nikolai Nikolajewitsch nicht verstand. Jeder sah nur ihre Schönheit, aber kaum jemand wußte, daß sie Mystik und dumme Zauberei mehr liebte als die eheliche Tätigkeit ihres Mannes.
    In den Salons drängten sich die Wunderheiler und fahrenden Mönche, die Wahrsager und Quacksalber, die Medikamente aus China und Tibet verkauften und es tatsächlich fertigbrachten, zwei kranke Hunde der Großfürstin zu heilen.
    Nikolai Nikolajewitsch resignierte nach einigen wilden Jahren mit Stana und verheiratete sich mit dem Militär. Die Armee wurde sein Lebensinhalt; der große Krieg, der Rußland zum Herrscher der Welt machen sollte, sein Lebenstraum.
    Zugegen waren auch: Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, Senator und Staatsratsmitglied, Synodaloberprokuror und damit Höchster im kirchlichen Amt; sowie Redakteur Michail Nikiforowitsch Katkow, der zwar kein staatliches Amt bekleidete, aber mächtiger war als jeder Minister: Er war der Freund des Zaren.
    Seit 1882 leitete er die Erziehung des Zarewitsch, Pobedonoszew dagegen war später hinzugekommen und hatte das Vertrauen des Thronfolgers erworben, weil er so gut über Mensch und Gott, die Philosophie und den Staat diskutieren konnte. In den Händen dieser beiden Männer lag die Ausbildung des Zarewitsch auch heute noch. Sie waren die wenigen Auserwählten, mit denen Nikolai Alexandrowitsch stundenlang im Anitschkowpalast oder im Alexanderpalast von Zarskoje Selo zusammensitzen konnte.
    Diener – ausnahmslos kleine Mohren in Pluderhosen, Seidenjacken und dicken Turbanen – servierten Tee und Schmalzgebäck, für den Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch den
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