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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bewundert wegen ihrer Tanzkunst und grazilen Schönheit, sie wurde von den Männern umschwärmt wie ein Honigtopf von den Bienen und von den Damen beneidet ob ihres freien Lebenswandels.
    1880 etwa, in diesem besonders heißen Sommer, hatte sie am Südende der Krestowskij-Insel nackt im Finnischen Meer gebadet! Es war ein wildes Gelände, mit hohen Farnen und dichtem Gestrüpp, undurchdringlichem Unterholz und ohne jeden Weg, aber Graf Kyrill Arkadjewitsch Plesskow war ihr heimlich zu Pferde gefolgt und hatte alles gesehen.
    Was er erzählte, natürlich nur im vertrauten Kreis, und was ebenso natürlich gleich die Runde machte, war wundersam. »Sie ist die Venus, die Schaumgeborene!« schwärmte Plesskow mit verzückten Augen. »Als sie aus dem Meer stieg, wurde die Sonne heller, die Wellen glätteten sich und der Wind schwieg. Die Natur hielt einfach den Atem an. So schön ist sie!«
    Daß jemand freiwillig im Meer schwamm, war schon ungewöhnlich, daß aber eine Frau – und dann noch völlig nackt – sich von den Wellen tragen ließ, das war geradezu ungeheuerlich!
    Tamaras Ruf als Frau ohne Nerven festigte sich immer mehr. Bei ihr gab es keine Skandale in der Oper, wie sie so gern von anderen Primaballerinen ausgelöst wurden, die an zu schwachen Nerven litten; bei ihr gab es keine Kräche oder Zusammenbrüche, keine Liebesdramen oder Duelle um ihre Gunst – sie tanzte wie eine Feder, ohne zu ermüden.
    Als sie älter wurde, sagte sie ganz nüchtern: »Ich fühle, daß meine Pirouetten langsamer werden und meine Sprünge weniger hoch. Ich bin jetzt sechsundvierzig Jahre alt. Man muß aufhören können.«
    Damals ernannte man sie zur Leiterin der Kaiserlichen Ballettschule von St. Petersburg, dem berühmtesten Tanzinstitut der Welt, das seine besten Tänzer in die Opernhäuser von Paris, Wien, Berlin, Dresden und London hinausschickte. Sie waren die umjubelten Botschafter eines Rußland, über das noch immer die Schleier einer geheimnisvollen, kaum greifbaren, aber doch sehr erregenden Lebensart gebreitet waren.
    Bismarcks Wort: »Laßt den Bären schlafen!« war wie ein Etikett geworden. Was dort in der unmeßbaren Weite des Ostens lebte, kam der übrigen Welt beinahe sagenhaft vor. Zwar hatten französische und italienische Baumeister und Architekten die prunkvollen Schlösser und Adelspaläste gebaut, der Geist der Französischen Revolution hatte auch in Rußland Spuren hinterlassen, wer es sich leisten konnte, ließ seine Kinder zuerst von deutschen, später von französischen Lehrern und Gouvernanten erziehen – aber es blieb doch immer ein Hauch von geheimnisvoller Unmeßbarkeit.
    Ein Abglanz von Versailles kehrte in den russischen Schlössern wieder, in der feinen Gesellschaft sprach man ein mit französischen Vokabeln durchsetztes Russisch, und es gehörte zur Reputation eines Mannes, der angesehen werden wollte, daß er mindestens einmal in Paris gewesen war und von den großzügigen Frauen in dieser Stadt erzählen konnte.
    Aber zurück zu Tamara Jegorowna, die eine strenge Lehrerin war. Was sie einmal von sich selbst verlangt hatte, erwartete sie jetzt von ihren Schülerinnen und Schülern. »Nur der ist ein Tänzer, dem seine Seele in den Körper fließt!« pflegte sie zu sagen. »Die Arme hoch werfen kann jeder. Aber mit ausgestrecktem kleinen Finger einen Aufschrei ausstoßen, daß ihn jeder hört – das müßt ihr können! Alles andere ist reine Muskelbewegung …«
    In diesen neun Jahren, die sie nun schon die Kaiserliche Ballettschule leitete, war eine neue Generation von Tänzern herangewachsen. Tamaras feste Hand war überall spürbar. Es gab keine Liebschaften zwischen ihren jungen Mädchen und den feinen, reichen Herrchen, die aus Paris den Spruch: »Wer etwas ist, hat eine Mademoiselle vom Ballett!« mitgebracht hatten.
    »Solange ihr bei mir seid«, sagte Tamara immer, »ist die Musik euer Geliebter oder eure Geliebte. Wem das nicht paßt, der kann gehen und auf den Märkten tanzen wie die zahmen Bären!«
    Es gab nur Arbeit bei Tamara Jegorowna, Ströme von Schweiß und Muskelschmerzen, Erschöpfung und stille Verzweiflung, brennende Füße und jagenden Atem. Aber was war der Lohn aller Mühe? Einmal würde jedem aus dieser Schule eine Welt offenstehen … Die Kaiserliche Oper von St. Petersburg oder das Bolschojtheater in Moskau, und von dort hinaus in die Weite, in jene Zauberländer, von denen man so viel las und so schöne Bilder sah: Frankreich, das Deutsche Kaiserreich, England,
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