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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Michel Verne
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gehen. Trotz strengster Rationierung gingen die Lebensmittel an Bord schon zur Neige, und es bestand für uns keine Hoffnung mehr, sie wieder zu erneuern …
    Ich kürze den Bericht über diese schreckliche Seefahrt ab. Um sie in allen Einzelheiten wiederzugeben, müßte ich im Geiste Tag für Tag noch einmal alles durchmachen, und das triebe mich zum Wahnsinn. So seltsam und furchtbar auch die Ereignisse waren, die dieser Fahrt vorausgingen oder nach ihr kamen, so bejammernswert mir auch die Zukunft – eine Zukunft, die ich nicht mehr erleben würde – erschien, so sollten wir doch noch während dieser verfluchten Fahrt das Maximum an Entsetzen kennenlernen. Ach, diese nicht enden wollende Fahrt auf einem unendlich scheinenden Meere! Jeden Tag darauf gefaßt sein, irgendwo anlegen zu können – und jeden Tag das Ende der Reise weiter hinausgeschoben zu sehen! Über Karten gebeugt dahinzuleben – über Karten, auf denen Menschen kurvenreiche Küstenlinien eingezeichnet hatten, und dann immer wieder feststellen zu müssen, daß nichts, aber auch gar nichts übriggeblieben war von all dem, was die Menschen für ewig feststehend angesehen hatten! Sich sagen zu müssen, daß die Erde von unzählbaren Lebewesen wimmelte, daß Millionen von Menschen und Myriaden von Tieren diese Erde nach allen Richtungen durchlaufen oder die Luft bevölkert hatten – und daß nun alle auf einmal tot sind, daß all das Leben ausgeblasen wurde, als wäre es ein winziges Flämmchen im Wind! Überall andere Menschenkinder zu suchen – umsonst zu suchen! Und dann nach und nach zur Überzeugung zu kommen, daß es um einen herum sonst nichts Lebendes mehr gibt, sich nach und nach der fürchterlichen Einsamkeit bewußt zu werden, allein zu sein im erbarmungslosen All! …
    Ist es mir wohl gelungen, die passenden Worte für den Ausdruck unserer Todesangst zu finden? Ich weiß es nicht. Denn in keiner Sprache der Welt kann es Worte geben, die dieser nie dagewesenen Situation gerecht würden.
    Nachdem wir auch dort das Meer erkundet hatten, wo früher die Halbinsel Indiens gewesen war, nahmen wir für zehn Tage Kurs nach Norden, dann nach Westen. Ohne daß unsere Lage sich im geringsten verändert hätte, fuhren wir über die Kette des Urals, der jetzt zu einem Teil des Meeresbodens geworden war. Und dann fuhren wir über die Stelle, wo früher Europa lag. Wir nahmen Kurs nach Süden, bis zu zwanzig Grad südlicher Breite, und, müde von unserer zwecklosen Irrfahrt, wieder nach Norden, über die nun versunkenen Pyrenäen sowie über eine riesige Fläche Wasser, die Afrika und Spanien bedeckte. Wir begannen uns tatsächlich an das Entsetzen zu gewöhnen. Wir verfolgten unseren Lauf genau auf den Karten und zeigten dann mit dem Finger: ›Hier war einmal Moskau … Warschau … Berlin … Wien … Rom … Tunis … Timbuktu … St. Louis … Oran … Madrid …‹, alles mit ständig wachsender Gleichgültigkeit, denn die Gewohnheit hatte uns abgestumpft, und wir fühlten beim Aussprechen dieser in Tat und Wahrheit so tragischen Namen nicht mehr das geringste.
    Ich aber hatte den Becher meiner Leiden noch nicht bis zur Neige geleert. Am Tage, als Kapitän Morris zu mir sagte – es war so um den 11. Dezember herum –: »Hier stand Paris …«, glaubte ich, man reiße mir das Herz aus der Brust. Meinetwegen mochte das ganze All versinken, aber doch nicht mein Frankreich – mein Paris, das mein Land verkörperte! …
    Neben mir konnte ich einen Mann schluchzen hören: ich drehte mich um … es war Simonat, der weinte.
    Für vier weitere Tage fuhren wir stetig nordwärts; als wir auf der Höhe von Edinburgh waren, nahmen wir Kurs nach Südwesten und suchten Irland; dann ging’s wieder ostwärts … Wir irrten auf gut Glück herum, denn es spielte wirklich keine Rolle mehr: die eine Richtung war so gut wie die andere …
    Wir fuhren über London, dessen feuchtes Grab von der ganzen Schiffsbesatzung salutiert wurde. Fünf Tage darauf segelten wir über Danzig, als der Kapitän – wiederum aufs Geratewohl – wenden ließ, so daß wir wieder eine südwestliche Richtung einschlugen. Der Steuermann gehorchte apathisch. Was machte es ihm schon aus? Nach allen Richtungen war es ja dieselbe Geschichte … Als wir den neunten Tag diesen Kurs eingehalten hatten, bekamen wir unser letztes Stückchen Schiffszwieback.
    Während wir uns noch hohlwangig anstarrten, befahl Kapitän Morris auf einmal, die Kessel zu heizen. Was mochte ihm durch den Kopf gehen?
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