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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Michel Verne
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unmittelbare Umgebung erkennen, doch der Umkreis wächst, wächst ständig, als würde unsere Hoffnung nach und nach eine Unzahl von Schleiern heben – endlich ist’s heller Tag. Er zerstört unsere letzten Illusionen.
    Unsere Lage ist äußerst einfach in ein paar Worten zu schildern: wir sind auf einer Insel. Das Meer umgibt uns von allen Seiten. Gestern noch lagen da vor uns unzählige Berggipfel, von denen ein paar sogar den, auf dem wir uns jetzt befinden, überragten. Diese Gipfel sind alle verschwunden, während der unsre – viel bescheidener als die andern – unerklärlicherweise auf seinem Sturz ins Meer aufgehalten wurde. Um uns statt der Berge eine endlose Wasserwüste. Wir stehen auf dem einzigen Fleckchen Erde, das bis zum ungeheuren Horizont noch zu entdecken ist.
    Ein einziger Blick genügt, uns das Ausmaß unsres Inselchens erkennen zu lassen, auf dem wir durch einen außerordentlichen Glücksfall Asyl gefunden haben: Wirklich, es ist klein genug, tausend Meter höchstens ist es lang und fünfhundert breit. Der Berg fällt nach Norden, Westen und Süden sanft zum Meere ab und ist noch etwa hundert Meter hoch. Im Osten hingegen fällt die kleine Insel in einem Felsabsturz jäh ins Meer ab.
    Dorthin wendet sich nun unser Blick. Denn in jener Richtung müßten wir ganze Bergketten hintereinander sehen und jenseits davon ganz Mexiko. Wie hat sich das alles in einer kurzen Frühlingsnacht gewandelt! Die Berge sind verschwunden, Mexiko ist verschlungen! An ihrer Stelle die Wasserwüste, die kahle, unendliche.
    Wir sehen uns an, entsetzt. Da sind wir nun, gestrandet, ohne Lebensmittel, ohne Süßwasser, auf diesem engen, kahlen Fels – keine Hoffnung bleibt uns mehr. Grausam enttäuscht werfen wir uns auf die Erde und warten auf den Tod.
     
    An Bord der
Virginia,
4. Juni
     
    Was ist in den folgenden Tagen geschehen? Ich habe keine Erinnerung mehr daran. Vermutlich habe ich schließlich das Bewußtsein verloren: erst an Bord des Schiffes, das uns gerettet hat, bin ich wieder zu mir gekommen. Das einzige, was ich weiß, ist, daß wir ganze zehn Tage auf jener Insel verbracht haben müssen und daß zwei von uns, Williamson und Rowling, vor Durst und Hunger gestorben sind. Von den fünfzehn Menschen, die meine Villa im Zeitpunkt der Sintflut beherbergt hat, bleiben bloß noch neun: mein Sohn Hans, mein Mündel Helene, mein Chauffeur Simonat, der wegen des Verlustes seines Wagens untröstlich ist, Anna Raleigh und ihre beiden Mädchen, die Ärzte Bathurst und Moreno, und schließlich ich, der ich mich beeile, diese Zeilen zur Erbauung späterer Geschlechter zu Papier zu bringen – womit ich bereits zugegeben habe, daß es deren wieder geben wird.
    Die
Virginia,
die uns trägt, ist ein sozusagen gemischtes Schiff – halb Dampfschiff, halb Segelschiff – von ungefähr zweitausend Tonnen, das dem Warentransport dient. Es ist ein recht betagtes Schiff, und seine Geschwindigkeit ist eher mittelmäßig. Der Kapitän heißt Morris und befehligt zwanzig Matrosen. Kapitän und Mannschaft sind ausnahmslos Engländer.
    Die
Virginia
hat Melbourne mit Ballast vor etwas mehr als einem Monat mit dem Bestimmungsort Rosario verlassen. Kein Zwischenfall hat ihre Reise gestört, ausgenommen in der Nacht vom 24. zum 25. Mai, als eine Anzahl von unglaublich hohen Grundwellen – die aber zum Glück ihrer Länge wegen ungefährlich waren – das Schiff packten. So eigenartig diese unerklärlichen Wellen auch waren, konnte der Kapitän doch nicht ahnen, welche Sintflut in demselben Moment in seiner Nähe vor sich ging. Wie erstaunt war er, als er an der Stelle, wo er Rosario hätte finden sollen, nichts als Wasser antraf. Auch von Mexiko fand sich nicht eine Spur. Von der mexikanischen Küste war bloß eine kleine Insel übrig geblieben. Eine Schaluppe der
Virginia
wurde zu dem Inselchen hinübergeschickt, auf dem die Besatzung dann elf leblose Körper entdeckte. Zwei waren offensichtlich tot. Die andern neun wurden auf die Schaluppe getragen und zur
Virginia
gebracht. Auf diese Weise sind wir gerettet worden.
     
    Auf dem Festland – Januar oder Februar
     
    Ein Zwischenraum von acht Monaten trennt den bisherigen Bericht von diesen nächsten Zeilen. Ich datiere sie mit Januar oder Februar, denn es ist mir völlig unmöglich, genauere Angaben zu machen, da ich kein verläßliches Zeitgefühl mehr besitze.
    Diese acht Monate stellen die schlimmste Zeit all unserer Prüfungen dar. Es ist die Zeit, in der wir unterschiedlich
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