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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Michel Verne
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immer grausamer behandelt worden sind, die Zeit, in der uns unser ganzes Elend so richtig bewußt geworden ist.
    Nachdem sie uns aufgenommen hatte, setzte die
Virginia
ihre Route weiter nach Osten fort, so schnell es ihr möglich war. Als ich auf dem Schiff wieder zu mir kam, war die Insel, auf der wir beinahe alle umgekommen wären, schon längst am Horizont verschwunden. Wie das Besteck besagte, das der Kapitän bei wolkenlosem Himmel nahm, mußten wir uns genau an der Stelle befinden, wo Mexiko hätte sein sollen. Doch von Mexiko war keine Spur mehr zu sehen – nicht mehr, als man von den Bergen im Mittelpunkt sehen konnte, als ich ohnmächtig dalag; nicht mehr auch, als man von irgendeinem Stück Erde entdecken konnte, so weit das Auge reichte; nach allen Seiten hin gab es nichts als die Unendlichkeit des Meeres …
    In dieser Feststellung lag etwas wirklich Betäubendes. Wir hatten einen Moment lang das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Wie denn? Ganz Mexiko einfach versunken! … Wir tauschten entsetzte Blicke, während wir uns fragten, wie weit diese fürchterliche Sintflut sich erstreckt haben mochte …
    Der Kapitän wollte es genau wissen: er änderte seinen Kurs und drehte nach Norden ab. Wenn es Mexiko nicht mehr gab, so war es doch undenkbar, daß der ganze amerikanische Kontinent ebenfalls versunken sein sollte.
    Und dennoch war es so. Umsonst segelten wir volle zehn Tage nach Norden – wir trafen auf kein Land. Und obgleich wir immer wieder die Richtung änderten: von Land nirgendwo eine Spur, auch nicht, als wir fast einen Monat lang nach Süden fuhren. So widersinnig uns die Erkenntnis auch schien, wir waren gezwungen, sie zuzugeben: jawohl, der ganze amerikanische Kontinent war in den Wellen des Ozeans verschwunden!
    Waren wir denn bloß gerettet worden, um ein zweites Mal die Schrecken der Todesangst kennenzulernen? Wir hatten wahrlich langsam Grund, es anzunehmen. Ohne an die Vorräte zu denken, die uns eines Tages ausgehen mußten, gab es eine viel größere Gefahr: was sollte aus uns werden, wenn die Kohle ausging und das Schiff nur noch dahintrieb? Ungefähr so mußte das Herz eines verblutenden Tieres zu schlagen aufhören. Deshalb ließ der Kapitän am 14. Juli – wir befanden uns ungefähr da, wo früher Buenos Aires liegen mußte – die Feuer ausgehen und die Segel setzen. Sobald dieser Befehl ausgeführt war, versammelte er die Mannschaft sowie die Passagiere der
Virginia
und erläuterte uns in wenigen Worten die Lage. Dann bat er uns, ernsthaft darüber nachzudenken und unsere Idee am folgenden Tage bei einem Kriegsrat vorzubringen.
    Ich weiß nicht, ob einer meiner Unglücksgenossen auf eine mehr oder weniger großartige Idee gekommen wäre. Ich für mein Teil zögerte, ich gestehe es, weil ich gar nicht sicher war, was in unserer Lage der beste Ausweg wäre – als gerade in jener Nacht ein Sturm losbrach und uns die ganze Entscheidung aus der Hand nahm. Wir mußten westwärts fliehen, der Sturm jagte uns vor sich her, und wir mußten befürchten, jeden Augenblick vom entfesselten Meer verschlungen zu werden.
    Der Orkan dauerte fünfunddreißig Tage, ohne eine Minute nachzulassen oder gar einzuschlafen. Wir begannen zu fürchten, das Unwetter werde nie mehr aufhören – als am 19. August das schöne Wetter so unmittelbar einsetzte, wie es uns im Stich gelassen hatte. Der Kapitän benutzte die Gelegenheit und nahm sogleich das Besteck: die Berechnung ergab für unsere Position 40° nördlicher Breite und 114° östlicher Länge – die Koordinaten von Peking!
    Wir hatten also bereits Polynesien und vielleicht auch Australien passiert, ohne uns dessen bewußt zu sein; und da, wo wir zurzeit segelten, hatte vorher die Hauptstadt eines Reiches von vierhundert Millionen Seelen gestanden!
    Hatte Asien also dasselbe Schicksal ereilt wie Amerika?
    Bald waren wir davon überzeugt. Die
Virginia
erreichte auf ihrem Südwestkurs das tibetische Hochland, dann das Gebiet des Himalaja. Hier hätten wir die höchsten Berge des gesamten Erdballs erblicken müssen. Nun: nach allen Richtungen hin ragte nichts über den Meeresspiegel herauf. Es fing beinahe an so auszusehen, als gäbe es auf der ganzen Welt kein anderes Stückchen trockenen Landes mehr als jenes kleine Inselchen, das unsere Rettung gewesen – als seien wir die einzigen Überlebenden der Sintflut, die letzten Bewohner der Erde auf dem bewegten Leichentuch des Meeres!
    Wenn dem so war, dann würden auch wir bald einmal zugrunde
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