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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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Diese Erzählungen bringe ich mit. Außerdem bringe ich noch verschiedene andere Aufzeichnungen mit. Die Erzählungen in ›Künstler der Schaufel‹ sind ein wenig umgruppiert. Mir scheint, so ist es stärker, besser. ›Das Akademiemitglied‹ ist in einen anderen Band eingegangen, der nicht ›Lektionen der Liebe‹ (so der Titel einer der Erzählungen) heißen wird, sondern ›Linkes Ufer‹, die offizielle geographische Bezeichnung jener Siedlung an der Kolyma, in der ich sechs Jahre gelebt habe.« Nadeshda Mandelstam ging in ihrem Antwortbrief nur kurz auf Schalamows Bemerkungen ein, sie pflichtete ihm vor allem hinsichtlich der Veränderung des Titels bei: »Es ist gut, dass Sie den Titel der Sammlung verändert haben. ›Lektionen der Liebe‹ ist nicht ganz passend … ›Linkes Ufer‹ ist durchaus ›geographisch‹.« Der »geographische« Titel des zweiten Zyklus ist geblieben, andere Entscheidungen sind aber von Schalamow später mit Blick auf die Gesamtkomposition – 1965 arbeitete er, wie aus der Briefstelle auch hervorgeht, parallel am zweiten und dritten Zyklus – noch revidiert worden. So verschob er beispielsweise die Erzählung »Lektionen der Liebe« noch aus dem zweiten in den sechsten Zyklus »Der Handschuh«.
    Eine andere Spur führt zum Philologen Leonid Pinskij (1906-1981), einem hervorragenden Kenner der westeuropäischen Literatur der Renaissance, der im Zuge der Stalinschen antijüdischen Kampagne gegen den »Kosmopolitismus« 1951 verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden war, nach seiner Rehabilitierung 1956 aber wieder in Moskau lebte. Schalamow war in den sechziger Jahren Gast bei dessen ›Freitagstreffen‹, zwanglosen Treffen von Dichtern, Schriftstellern und Malern, die zur erstarkenden Subkultur der Dissidenten gehörten. Pinskijs Witwe, die Übersetzerin Jewgenija Lyssenko, erwähnt in ihren Erinnerungen, ihr Mann habe Schalamow geholfen, die einzelnen Erzählungen über die Lager an der Kolyma zu Zyklen zusammenzustellen. Der Hinweis ist aufschlussreich, hatte sich Leonid Pinskij doch mit der Novellistik der Renaissance beschäftigt. Und Schalamow, der sich zeitlebens intensiv mit der literarischen Kurzform des Erzählens auseinandersetzte, bezeichnete sich durchaus auch als einen Novellisten: »Wie jeder Novellist«, schrieb er 1971, »messe ich dem ersten und dem letzten Satz eine außerordentliche Bedeutung zu.«
    Mit der gleichen Sorgfalt sind alle sechs Zyklen durchkomponiert, wobei nicht nur dem ersten und dem letzten Satz jeder Erzählung, sondern auch der ersten und der letzten Erzählung jeweils eine besondere Bedeutung zukommt. Die einzelnen Zyklen unterscheiden sich in ihrer Erzählerperspektive, in dem jeweils entworfenen Raum-Zeit-Kontinuum.
    So beginnt der erste Zyklus mit der eingangs erwähnten Erzählung »Durch den Schnee« (1956), in der es im übertragenen Sinne auch um einen literarischen Pfad geht, den der Schriftsteller bahnt, um den Leser in die menschenvernichtende Lagerwelt einzuführen. Am Ende des Zyklus, in »Typhusquarantäne« (1959), steht der Versuch des Ich-Erzählers, den Aufenthalt in einer Quarantänebaracke so lange wie möglich auszudehnen und den drohenden Abtransport in die Goldminen zu vermeiden. Es bleibt ein vergebliches Unterfangen, denn am Ende steht für ihn die erneute Etappe ins Ungewisse. In ihrer Gesamtheit entwerfen die Erzählungen des ersten Zyklus das Raum-Zeit-Kontinuum einer extrem – auf den Lagerpunkt, die Goldmine, die Baracke – begrenzten Lagerwelt auf der ohnehin als Insel geltenden Kolyma-Region.
    Im zweiten Zyklus »Linkes Ufer« weitet sich der Horizont – die Erzählerperspektive ist nicht mehr die des Häftlings in der Goldmine, sondern des Arzthelfers in einem Lagerkrankenhaus, der mehr gesehen hat, mehr erlebt hat. Raum und Zeit werden weiter gefasst: Vor dem Hintergrund des an der Kolyma Erlebten, das die Maßstäbe für immer verschoben hatte, werden schlaglichtartig Situationen aus dem Leben vor und nach der Kolyma skizziert – Szenen, die im Moskauer Butyrka-Gefängnis spielen, in dem Schalamow 1929 inhaftiert war (»Das beste Lob«), oder im Gebiet am nordsibirischen Fluss Wischera, der Region der ersten Lagerhaft Schalamows (»Die Diamantenkarte«), oder auch in einer Moskauer Wohnung in den 1950er Jahren (»Das Akademiemitglied«).
    Das Thema des Gedächtnisses, von Erinnern und Vergessen strukturiert den gesamten Zyklus. Die erste Erzählung »Der Statthalter von Judäa« (1965)
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