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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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Namen in Erscheinung (am häufigsten als Krist oder Andrejew, manchmal aber auch offen als Schalamow). Motive wandern von einer Erzählung in eine andere, Episoden werden mehrfach erzählt, aber aus unterschiedlichen Perspektiven oder sie betreffen verschiedene Personen. Einige der Erzählungen handeln, ohne dass es der Leser gleich zu erkennen vermag, im Nordural, in der Region am Fluss Wischera, wo Schalamow seine ersten Haftzeit verbüßt hatte. Andere – wie »Das Kreuz« (1959) aus dem Zyklus »Künstler der Schaufel« – wiederum stehen thematisch außerhalb der Lagerwelt und sind doch konzeptionell untrennbar mit dem Epochenbruch verbunden, der die Maßstäbe für immer verschoben und die Fragilität des Menschen wie der Zivilisation vor Augen geführt hatte.
    Auf diese Weise entsteht ein dichtes Gewebe aus eng miteinander verwobenen Erzählungen, in dem Wiederholungen, Auslassungen und Unterbrechungen ebenso ihre klare literarische Funktion haben wie die Wechsel der Erzählperspektiven oder der Raum- und Zeitkoordinaten. Die kurze poetische Skizze »Das Krummholz« (1960) aus dem ersten Erzählzyklus schildert nicht einfach die Landschaft an der Kolyma, sondern ist Schalamow wichtig, wie er unterstreicht, »als Seelenzustand«, den man »für den Kampf« brauche in den Erzählungen »Schocktherapie« (1956), »Die Juristenverschwörung« (1962) und »Typhusquarantäne« (1959). Schalamow war sich bewusst, dass er seinen Leser auf sehr direkte Weise mit dem Kampf ums Überleben in den Lagern konfrontierte. Es war ein Kampf, den er selbst in der von Kälte, Gewalt und harter physischer Arbeit beherrschten Realität des Lagers jahrelang führen musste und dem er sich im Niederschreiben der »Erzählungen aus Kolyma« nochmals stellte. Schalamow wusste, welche seelischen Kräfte dieser Kampf dem Leser abverlangen werden und war daher darauf bedacht, ihn entsprechend zu wappnen, ihm auch Momente des Innehaltens, des Durchatmens oder sogar der Entspannung zu verschaffen.
    Die Eigenheiten der Poetik der »Erzählungen aus Kolyma« legen den Schluss nahe, ihr Autor sei der reale Träger der in den Erzählungen beschriebenen Erfahrungen, und nicht nur sein Körper, sondern ebenso sein Gedächtnis sei von Narben gezeichnet. In der gleichen Weise wie das Gedächtnis des Kolyma-Überlebenden sei auch das Textgewebe der »Erzählungen aus Kolyma« von Narben, von Unebenheiten und Unterbrechungen gezeichnet. Dieses Argument gewinnt an Kraft, bedenkt man, dass Schalamow, wie aus Selbstzeugnissen und Erinnerungen hervorgeht, über ein außerordentliches Gedächtnis verfügte. Auch hatte er sich zeitlebens für Geschichte interessiert, insbesondere für die Geschichte der revolutionären Freiheitsbewegung in Russland, und in der Moskauer Lenin-Bibliothek, soweit ihm das möglich war, in alten Publikationen historische Recherchen betrieben für die »Erzählungen aus Kolyma« und die anderen Prosatexte – für die beiden »Antiromane« über seine Kindheit (»Die vierte Wologda«, 1968-1971) und die erste Gefängnis- und Lagerhaft (»Wischera«, 1971) sowie für die fragmentarischen Erinnerungen an Moskau der 1920er/1930er Jahre und an die Kolyma.
    Da Schalamow den Dokumentcharakter seiner Erzählungen hervorhob, fallen faktische Ungenauigkeiten sowie betont subjektive Wertungen stärker ins Gewicht und öffnen den Horizont für unterschiedliche Interpretationen. Das betrifft beispielsweise die Frage, warum Schalamow den einstigen Medizinstudenten und Häftling Sergej Michajlowitsch Lunin, der im Mittelpunkt der Erzählung »Der Nachkomme des Dekabristen« (1962) aus dem ersten Zyklus steht und auch in anderen Erzählungen eine Rolle spielt, zum unmittelbaren Nachfahren des Dekabristen Michail Lunin (1787-1845) erklärt, obgleich dieser keine direkten Nachkommen hatte. Auch werde, so wird in Erinnerungen anderer Kolyma-Überlebender vermerkt, die Figur des Lunin von Schalamow wider besseres Wissen in einem eindeutig negativen Licht dargestellt, wie in »Iwan Bogdanow« (1970-1971), wo er als »Beschützer der Ganoven« bezeichnet wird.
    Eine weitere zunächst irritierende Ungenauigkeit betrifft die Figur des Sozialrevolutionärs Andrejew, der in der Erzählung »Das beste Lob« (1964) aus dem zweiten Zyklus »Linkes Ufer« unter seinem vollen Namen Aleksandr Georgijewitsch Andrejew erscheint und von dem der Ich-Erzähler in der Zelle des Butyrka-Gefängnisses 1929 ein für ihn, wie es heisst, »prophetisches Lob« erhält:
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