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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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Verteidigung seiner primitiven Gefühle. In einer Situation aber, wo die tausendjährige Zivilisation abfällt wie eine Schale und das animalische biologische Wesen vollkommen offen hervortritt, werden die Reste der Kultur zum realen und brutalen Kampf um das Leben in seiner unmittelbaren, primitiven Form genutzt.
    Wie davon erzählen? Wie begreiflich machen, dass das Denken, die Gefühle, die Handlungen des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht, sein Wortschatz reduziert und seine Sinne abgestumpft? Von diesem Leben kann man nicht in der ersten Person erzählen. Denn eine solche Erzählung würde niemanden interessieren – so arm und begrenzt wäre die seelische Welt des Helden.
    Wie zeigen, dass der seelische Tod vor dem physischen Tod eintritt? Und wie den Prozess des physischen Verfalls und parallel des geistigen Verfalls zeigen? Wie zeigen, dass geistige Kraft keine Stütze sein, den physischen Verfall nicht aufhalten kann?
    Vor Zeiten stritt ich in der Zelle des Butyrka-Gefängnisses mit Aron Kogan, einem talentierten Dozenten der Fliegerakademie. Kogan war der Ansicht, dass die Intelligenz als gesellschaftliche Gruppe erheblich schwächer sei als jede andere Klasse. Doch in Person ihrer Vertreter sei sie in wesentlich höherem Grad zu Heroismus fähig als jeder Arbeiter und jeder Kapitalist. Das war ein freundlicher, aber falscher Gedanke. Das bestätigte sich schnell bei der Anwendung der berüchtigten »Methode Nr. 3« in Verhören. Das Gespräch mit Kogan fand Anfang 1937 statt, und geschlagen wurde in der Untersuchungshaft ab der zweiten Hälfte von 1937, und die Schläge des Untersuchungsrichters trieben allen Intellektuellen-Heroismus schnell aus. Das bestätigte sich auch in meinen langjährigen Beobachtungen an den unglücklichen Menschen. Geistige Überlegenheit verkehrte sich in ihr Gegenteil, Stärke verkehrte sich in Schwäche und wurde zur Quelle zusätzlicher moralischer Leiden – für jene im Übrigen wenigen Intellektuellen, die außerstande waren, sich von der Zivilisation als einer unbequemen, ihre Bewegungsfreiheit einschränkenden Kleidung zu trennen. Das bäuerliche Leben unterschied sich wesentlich weniger vom Lagerleben als das Leben der Intelligenz, und darum wurden physische Leiden von den Bauern leichter ertragen und waren kein weiterer moralischer Druck.
    Der Intellektuelle konnte das Lager im voraus nicht durchdenken, konnte es theoretisch nicht erfassen. Die gesamte persönliche Erfahrung des Intellektuellen ist reinster Empirismus in jedem Einzelfall. Wie von diesen Schicksalen erzählen? Es sind ihrer Tausende, Zehntausende …
    Wie das Gesetz des Verfalls herleiten? Das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall? Wie davon erzählen, dass nur die Religiösen eine vergleichsweise aufrechte Gruppe waren? Dass sich Parteimitglieder und Geistesarbeiter schneller demoralisieren ließen als andere? Worin gründete das Gesetz? In der physischen Stärke? Im Vorhandensein irgendeiner Idee? Wer kommt eher um? Die Schuldigen oder die Unschuldigen? Warum waren in den Augen des einfachen Volks die Intellektuellen im Lager nicht Märtyrer einer Idee? Dass der Mensch des Menschen Wolf ist und wann das so ist. An welcher letzten Grenze kommt das Menschliche abhanden? Wie von all dem erzählen?
    <1970er Jahre>
    (Aus: Warlam Schalamow, Über Prosa (2009), S. 32-35)
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