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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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Kugelschreibertinte oder Alizarin, vermischt mit reinem Blut?
    In jedem Fall wird kein einziges Todesurteil mit einfachem Bleistift unterschrieben.
    In der Tajga können wir keine Tinte gebrauchen. Regen, Tränen und Blut lösen jede Tinte, jeden Kopierstift auf. Kopierstifte darf man in den Paketen nicht schicken, sie werden bei Durchsuchungen eingezogen – dafür gibt es zwei Gründe. Der erste: Der Häftling kann damit jedes Dokument fälschen; der zweite: So ein Stift dient als Druckfarbe bei der Herstellung der Spielkarten der Ganoven, der »
stirki
«, und also …
    Zugelassen ist nur ein schwarzer Bleistift, einfacher Graphit. Die Verantwortung des Graphits ist an der Kolyma außerordentlich, ungewöhnlich groß.
    Die Kartographen haben mit dem Himmel gesprochen, haben den Sternenhimmel ins Auge gefasst, nach der Sonne geschaut und einen Festpunkt auf unserer Erde bestimmt. Und über diesem Festpunkt, einer auf dem Gipfel eines Bergs, auf einem Felsgipfel in den Stein getriebenen Marmortafel – stellten sie einen Dreifuß auf, ein Lattensignal. Dieser Dreifuß zeigt exakt die Stelle auf der Karte, und von ihm, vom Berg, vom Dreifuß, durch Talkessel und Schluchten über Lichtungen, Brachen und Sumpfräumden zieht sich ein unmerklicher Faden – ein unsichtbares Netz von Längen- und Breitenkreisen. In die dichte Tajga werden Schneisen geschlagen – jede Kerbe, jede Marke ist eingefangen im Fadennetz des Nivellierinstruments, des Theodoliten . Die Erde ist vermessen, die Tajga ist vermessen, und auf den frischen Kerben begegnen wir auf Schritt und Tritt der Spur des Kartographen, des Landvermessers – einfachem schwarzem Graphit.
    Die Tajga des Kolymagebiets ist kreuz und quer durchzogen von den Schneisen der Topographen. Und doch gibt es die Schneisen nicht überall, nur in den Wäldern rund um die Siedlungen, um die »Produktion«. Die Brachen, Lichtungen und Räumden der Waldtundra und die nackten Bergkuppen sind nur von Luft-, von imaginären Linien durchzogen. Hier gibt es keinen einzigen Baum, um einen Anschluss zu markieren, keine verlässlichen Richtpunkte. Richtpunkte werden auf Felsen gesetzt, in Flussbetten, auf die schneelosen Bergkuppen. Und von diesen sicheren, biblischen Festpunkten aus erfolgt die Vermessung der Tajga, die Vermessung der Kolyma, die Vermessung des Gefängnisses. Die Kerben an den Bäumen sind das Netz von Schneisen, von denen durch das Rohr des Theodoliten, im Fadenkreuz die Tajga ins Auge gefasst und berechnet ist.
    Ja, für die Kerben eignet sich nur der einfache schwarze Bleistift. Nicht der Kopierstift. Der Kopierstift verfließt, wird vom Saft des Baumes aufgelöst, vom Regen oder Tau, vom Nebel oder Schnee abgewaschen. Der künstliche Bleistift, der Kopierstift eignet sich nicht für Notizen über die Ewigkeit, über die Unsterblichkeit. Doch der Graphit, der Kohlenstoff, unter höchstem Druck Millionen Jahre zusammengepresst und wenn nicht in Steinkohle, dann in einen Brillanten verwandelt oder, noch wertvoller als ein Brillant, in einen Bleistift, in Graphit, der alles aufschreiben kann, was er gewusst und gesehen hat … Ein größeres Wunder als der Diamant, obwohl die chemische Natur von Graphit und Brillant dieselbe ist.
    Die Instruktion verbietet den Topographen nicht nur, für Marken und Kerben den Kopierstift zu benutzen. Jede Legende oder jeder Legendenentwurf bei der Vermessung nach Augenmaß braucht den Graphit für die Unsterblichkeit. Die Legende braucht den Graphit für die Unsterblichkeit. Der Graphit – ist Natur, der Graphit hat teil am irdischen Kreislauf und widersteht der Zeit manchmal besser als der Stein. Die Kalksteinberge zerfallen unter dem Regen, den Windstößen, den Flusswellen, aber die junge Lärche – sie ist erst zweihundert Jahre alt, sie muss noch leben – bewahrt auf ihrer Kerbe die Ziffer, die Marke der Verbindung von biblischem Geheimnis und Gegenwart.
    Die Ziffer, das Kartenzeichen wird auf die frische Kerbe gemalt, auf die strömende frische Wunde des Baumes, eines Baumes, der Harz verströmt wie Tränen.
    Nur mit Graphit kann man in der Tajga schreiben. Die Topographen haben in den Taschen ihrer Westen, Seelenwärmer, Feldblusen, Hosen und Halbpelze immer einen Stummel, ein Restchen Graphitstift.
    Papier, Notizbuch, Messplan, ein Heft – und der Baum mit der Kerbe.
    Das Papier ist eine der Masken, eine der Verwandlungen des Baumes in Diamant und Graphit. Der Graphit ist Ewigkeit. Größte Härte, die in größte Weichheit
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