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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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greift den Titel einer Erzählung von Anatole France auf. Geht es bei France um den Gedächtnisverlust von Pontius Pilatus, der sich nach siebzehn Jahren nicht mehr an Christus erinnerte, so steht bei Schalamow ein freier Lagerarzt im Mittelpunkt, der Jahre später die grausamen Geschehnisse an der Kolyma aus seinem Gedächtnis bewusst getilgt hat. In »Das Akademiemitglied« (1961) kommt es im Moskau des Jahres 1957, ein Jahr nach der Öffnung der Lager, zum Zusammentreffen zwischen einem Journalisten und einem namhaften Wissenschaftler. Die autobiographischen Bezüge sind kaum zu übersehen, zumal Schalamow zu dieser Zeit als Journalist für die Literaturzeitschrift »Moskwa« arbeitete. Der Journalist und der Wissenschaftler verkörpern gleichsam die Gegenpole Erinnern und Vergessen: Der Journalist erinnert sich unter großen Schmerzen an all das, was ihm im Lager widerfahren war und was er aus Gründen des Selbstschutzes eigentlich besser vergessen sollte. Sein Antipode, der erfolgreiche Wissenschaftler, ein Zeitzeuge des massenhaften Terrors, hat die Geschehnisse von einst vollständig aus seinen Erinnerungen getilgt. Die letzte Erzählung »Sentenz« (1965) über einen Häftling, zu dem Sprache und Erinnerung ganz ohne sein eigenes Zutun zurückkehren, kann als eine Art Hymnus auf das Gedächtnis gelesen werden. Die Erinnerung an ein einzelnes, dem Ich-Erzähler zunächst völlig unverständliches lateinisches Wort (Sentenz), das unverhofft in die arme und grobe Lagersprache eingedrungen war, wird hier zum Symbol des Lebens, des Überlebens. Es ist symptomatisch, dass dieses Wort zuerst auf der Zunge entsteht, d.h. nicht Ergebnis eines bewussten Willensaktes ist. Das ist ein auch in anderen Erzählungen immer wieder vorkommendes Motiv und bringt die Überzeugung des Autors zum Ausdruck, der Mensch lebe im Lager nur durch den Instinkt und müsse auf seinen Körper hören, um zu überleben. Spuren dieses Wissens trage der menschliche Körper – sichtbar wie unsichtbar – selbst Jahrzehnte später noch in sich.
    Auch in den Zyklen »Künstler der Schaufel«, »Die Auferweckung der Lärche« und »Der Handschuh« lotet Schalamow das Verhältnis von Erinnern und Vergessen aus. Dabei werden historisch weiter zurückliegende Geschehnisse einbezogen und das Spektrum an erzählerischen Mitteln wird vielfältiger. Selbst biographische Skizzen und psychologische Portraits, die er 1965 in seinem poetologischen Essay »Über Prosa« mit Blick auf den ersten Zyklus entschieden ablehnte, nehmen jetzt größeren Raum ein. Obgleich Schalamow seinem grundlegenden Prinzip der literarischen Verdichtung des Dokumentarischen treu bleibt, kommt Autobiographisches unverhüllter ins Blickfeld. Im letzten der Zyklen wird der Ich-Erzähler in vier Erzählungen offen mit dem Namen Schalamow angesprochen.
    Der dritte Zyklus »Künstler der Schaufel« setzt ein mit »Der Anfall« (1960), der äußerst knappen Schilderung eines Schwindelanfalls aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der sich, gepeinigt von Übelkeit, erneut in der eisigen Kälte des Nordens wähnte und erst erleichtert aufatmen konnte, als er begriff, dass er nicht im Hohen Norden, sondern im Institut für Neurologie war. Die autobiographische Erzählung – Schalamow selber litt an der Ménière-Krankheit, zu deren Symptomen Drehschwindel und Hörverlust zählen – schließt mit dem für den gesamten Zyklus programmatischen Satz: »Ich hatte keine Angst vor meinen Erinnerungen.« Dieses Leitmotiv wird in der letzten Erzählung »Der Zug« (1964) erneut aufgegriffen. Berichtet wird von einem Ich-Erzähler, der sich auf der Fahrt aus dem sibirischen Irkutsk nach Moskau befindet und von sich sagt, er werde seinem Gedächtnis nicht erlauben, etwas von dem zu vergessen, was er gesehen hatte. Welcherart diese Erinnerungen waren, erfährt der Leser aus dem lakonischen Schlusssatz: »Ich kehrte zurück aus der Hölle.«
    Im Mittelpunkt der acht »Skizzen aus der Verbrecherwelt« (1959) des vierten Zyklus steht eine essayistische Erkundung der Welt der Ganoven. Deren Romantisierung in der russischen Literatur, vor allem aber die Stalinsche Politik hat der Verbrecherwelt aus Schalamows Perspektive neuen Nährboden gegeben. Am Ende steht daher ein für den Grundton der »Erzählungen aus Kolyma« ungewohnt emphatischer Appell: »Karthago muss zerstört werden! Die Welt der Ganoven muss vernichtet werden!«
    In »Die Auferweckung der Lärche« verlagert sich der Akzent auf
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