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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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– wurden Garanin genannt, an ihn herausgegeben von Anissimow. Das Bergwerk »Partisan« war ein kleines Bergwerk. Dort gab es 1938 nur zweitausend Mann an Listenbelegschaft. Die Nachbarbergwerke »W. At-Urjach« und »Schturmowoj« hatten eine Bevölkerung von je zwölftausend Mann.
    Anissimow war ein eifriger Chef. Zwei persönliche Gespräche mit dem Genossen Anissimow haben sich mir gut eingeprägt. Das erste im Januar 1938, als Bürger Anissimow zum Ausrücken gekommen war, an der Seite stand und zuschaute, wie sich seine Gehilfen unter dem Blick des Chefs schneller drehten als nötig. Aber nicht schnell genug für Anissimow.
    Jetzt trat unsere Brigade an, und der Einsatzleiter Sotnikow zeigte mit dem Finger auf mich, holte mich aus der Reihe und stellte mich vor Anissimow hin.
    »Das ist ein Drückeberger. Er will nicht arbeiten.«
    »Wer bist du?«
    »Ich bin Journalist, Schriftsteller.«
    »Konservendosen wirst du hier beschriften. Ich frage – wer bist du?«
    »Hauer der Brigade Firsow, Häftling soundso, Haftdauer fünf Jahre.«
    »Warum arbeitest du nicht, warum schadest du dem Staat?«
    »Ich bin krank, Bürger Natschalnik.«
    »Was heißt krank, so eine robuste Stirn?«
    »Es ist das Herz.«
    »Das Herz. Es ist das Herz. Ich habe selbst ein krankes Herz. Die Ärzte haben mir den Hohen Norden verboten. Trotzdem bin ich hier.«
    »Sie sind etwas anderes, Bürger Natschalnik.«
    »Sieh an, wie viele Worte in einer Minute. Du sollst den Mund halten und arbeiten. Überleg es dir, ehe es zu spät ist. Wir rechnen ab mit euch.«
    »Zu Befehl, Bürger Natschalnik.«
    Das zweite Gespräch mit Anissimow war im Sommer, bei Regen, im vierten Abschnitt, wo man uns völlig durchnässt festhielt. Wir bohrten Schurfgraben. Die Ganovenbrigade war längst in die Baracke entlassen wegen des Sturzregens, aber wir waren Achtundfünfziger, und wir standen in den Schurfen, nicht tief, bis zum Knie. Der Begleitposten schützte sich vor dem Regen unter einem Pilz.
    In diesem Sturzregen, in diesem Guss besuchte uns Anissimow zusammen mit dem Chef für Sprengarbeiten im Bergwerk. Der Chef kam, um zu prüfen, ob wir ordentlich nass werden, ob sein Befehl zu Artikel achtundfünfzig erfüllt wird, für den es keinerlei Arbeitsunfähigkeit gibt und der sich rüsten soll fürs Paradies, fürs Paradies, fürs Paradies.
    Anissimow trug einen langen Regenmantel mit einer besonderen Kapuze. Im Laufen wedelte der Chef mit den Lederhandschuhen.
    Ich kannte Anissimows Gewohnheit, den Häftlingen mit den Handschuhen ins Gesicht zu schlagen. Ich kannte diese Handschuhe, die in der Wintersaison von Pelz
kragi bis zum Ellbogen abgelöst wurden, kannte die Gewohnheit, mit den Handschuhen ins Gesicht zu schlagen. Ich hatte die Handschuhe Dutzende Male in Aktion gesehen. Von dieser Eigenart Anissimows wurde im »Partisan« in den Häftlingsbaracken viel gesprochen. Ich war Zeuge stürmischer Diskussionen, beinahe blutiger Streits in der Baracke – schlägt der Chef mit der Faust oder mit den Handschuhen, mit einem Knüppel oder mit dem Rohrstock, mit der Peitsche oder verwendet er seinen »Handrevolver«. Der Mensch ist ein kompliziertes Geschöpf. Diese Streits endeten beinahe in Schlägereien, dabei waren die Teilnehmer an diesen Streits ehemalige Professoren, Parteimitglieder, Kolchosbauern und Heerführer.
    Insgesamt rühmten alle Anissimow – er schlägt, aber wer schlägt nicht? Dafür blieben keine blauen Flecken von Anissimows Handschuhen, und wenn er einem mit den
kragi
die Nase blutig schlug, dann lag das an der »pathologischen Veränderung des Blutkreislaufs infolge langer Inhaftierung«, wie ein Arzt erläuterte, den man zu Anissimows Zeiten nicht zum ärztlichen Dienst zugelassen, sondern genauso wie alle zur Arbeit gezwungen hatte.
    Ich hatte mir längst das Wort gegeben, wenn man mich schlägt, so wird das auch das Ende meines Lebens sein. Ich werde den Chef schlagen, und man wird mich erschießen. Leider war ich ein naiver Knabe. Als ich schwächer wurde, wurden auch mein Wille, mein Verstand schwächer. Ich brachte mich leicht dahin, es zu ertragen, und fand nicht die seelische Kraft für den Gegenschlag, für den Selbstmord, für den Protest. Ich war der allergewöhnlichste
dochodjaga
und lebte nach den psychischen Gesetzen der
dochodjagi
. All das war wesentlich später, aber damals, als ich dem Bürger Anissimow begegnete, besaß ich noch Kräfte, Stärke, Glaube, Entschlusskraft.
    Anissimows Lederhandschuhe kamen näher,
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