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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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Man gab uns Brot auf die Hand – jedem einen Zweihunderter.
    »Brot nur nach Ration«, verkündete feierlich der Brigadier, »und alles andere zum Vollschlagen.«
    Und wir schlugen uns voll. Jede Suppe besteht aus zwei Teilen: Dickem und Brühe. Zum Vollschlagen gab man uns die Brühe. Dafür war der zweite Gang, die Grütze, ganz ohne Betrug. Der dritte Gang – lauwarmes Wasser mit einem leichten Beigeschmack von Stärke und einer kaum wahrnehmbaren Spur von aufgelöstem Zucker. Das war die Fruchtspeise.
    Häftlingsmägen sind keineswegs vergröbert, ihr Geschmacksvermögen durch den Hunger und die grobe Nahrung keineswegs abgestumpft. Im Gegenteil, das Geschmacksvermögen des hungernden Häftlingsmagens ist außerordentlich. Die qualitative Reaktion eines Häftlingsmagens nimmt es an Feinheit mit jedem physikalischen Labor eines beliebigen Landes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf.
    Kein freier Magen hätte das Vorhandensein von Zucker in jener Fruchtspeise festgestellt, die wir aßen oder vielmehr tranken in dieser Kolyma-Nacht im Bergwerk »Partisan«.
    Uns aber erschien die Fruchtspeise süß, ausnehmend süß, uns erschien sie als Wunder, und jeder erinnerte sich daran, dass es noch Zucker gibt auf der weiten Welt und er sogar in den Häftlingskessel gelangt. Welcher Zauberer …
    Der Zauberer war nicht weit. Wir entdeckten ihn nach dem ersten Gang des zweiten Mittagessens.
    »Brot nur nach Ration«, sagte der Brigadier, »den Rest zum Vollschlagen.« Und er sah den Zauberer an.
    »Jaja«, sagte der Zauberer.
    Das war ein kleines, sauberes, dunkles Männchen, sauber gewaschen, mit noch nicht erfrorenem Gesicht.
    Unsere Leitung, unsere Aufseher, Vorarbeiter, Einsatzleiter, Lagerchefs und Begleitposten – alle hatten die Kolyma schon gekostet, und in jedem, in jedem Gesicht hatte die Kolyma ihre Worte eingeschrieben, ihre Spur hinterlassen, zusätzliche Furchen gekerbt, für immer den Fleck der Erfrierungen, ein unverwischbares Zeichen, ein unauslöschliches Brandmal gesetzt!
    Auf dem rosigen Gesicht des sauberen dunklen Männchens gab es noch nicht einen einzigen Fleck, nicht ein Zeichen.
    Das war der neue Obererzieher unseres Lagers, soeben vom Festland angereist. Der Obererzieher machte ein Experiment.
    Der Erzieher hatte mit dem Natschalnik abgemacht, hatte durchgesetzt, dass gegen eine Gepflogenheit der Kolyma verstoßen wird: Täglich hatte man die Reste der Suppe und der Grütze nach alter, hundert- oder sogar tausendjähriger Tradition immer von der Küche in die Baracke der Ganoven getragen und »das Dicke« in der Baracke der besten Brigaden verteilt – um die Brigaden nicht mit dem größten, sondern mit dem kleinsten Hunger zu unterstützen und alles auf den Plan zu verwenden, alles in Gold zu verwandeln – die Seelen und Körper aller Natschalniks, Begleitposten und Häftlinge.
    Jene Brigaden – und die Ganoven genauso – hatten schon gelernt, sich schon angewöhnt, auf diese Reste zu rechnen. Also – auch ein moralischer Schaden.
    Aber der neue Erzieher war mit der Gepflogenheit nicht einverstanden, er bestand darauf, die Reste der Nahrung den Schwächsten, den Hungrigsten zu geben – damit wird dann wohl auch ihr Gewissen erwachen.
    »Statt eines Gewissens ist ihnen ein Horn gewachsen«, versuchte sich der Vorarbeiter einzumischen, aber der Erzieher blieb standhaft und bekam die Genehmigung zu seinem Experiment.
    Für den Versuch wurde die allerhungrigste, unsere Brigade ausgewählt.
    »Sie werden sehen, der Mensch wird essen und zum Dank an den Staat besser arbeiten. Kann man denn von diesen
dochodjagi
Arbeit verlangen?
Dochodjagi
sage ich, ja?
Dochodjagi
– das ist das erste Wort aus der Gaunersprache, das ich an der Kolyma gelernt habe. Sage ich das richtig?«
    »Ganz richtig«, sagte der Abschnittschef, ein Freier, ein Kolymaveteran, der in diesem Bergwerk einige Tausend Mann »an den Hügel« geschickt hat. Er war gekommen, um sich das Experiment anzuschauen.
    »Aber diese Drückeberger, diese Simulanten kann man einen ganzen Monat mit Fleisch und Schokolade füttern, bei völliger Ruhe. Und selbst dann werden sie nicht arbeiten. In ihrem Hirnkasten hat sich etwas für immer verändert. Das ist Schlacke, Auswurf. Für die Produktion wäre es wertvoller, die zu füttern, die noch arbeiten, und nicht diese Drückeberger!«
    An der Küchenluke begann ein Streit, ein Geschrei. Der Erzieher redete energisch. Der Abschnittschef hörte mit unzufriedenem Gesicht zu, und
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