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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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riesiges Tier am Ufer, schwer seufzend, und der Wind zause sein Fell mit dem schuppigen, auch im Regen funkelnden Wellenmuster.
    Es war kalt und schrecklich. Die heiße herbstliche Klarheit der Farben des sonnigen Wladiwostok war irgendwo dort geblieben, in der anderen, wirklichen Welt. Dies hier war eine feindselige und düstere Welt.
    Kein Wohngebäude war in der Nähe zu sehen. Die einzige Straße umrundete die Bergkuppe und lief irgendwohin nach oben.
    Schließlich waren alle an Land gegangen, und schon in der Dämmerung machte sich die Etappe langsam auf in die Berge. Niemand fragte etwas. Die Menge der nassen Menschen kroch die Straße entlang und blieb oft zum Atemholen stehen. Die Koffer wurden zu schwer, die Kleidung war nass.
    Zwei Biegungen, und neben uns, oberhalb von uns, sahen wir auf einem Bergvorsprung Reihen von Stacheldraht. An den Stacheldraht pressten sich von innen Menschen. Sie schrien etwas, und plötzlich flogen Brotlaibe zu uns herüber. Das Brot wurde über den Stacheldraht geworfen, wir fingen es auf, brachen es durch und teilten es. Hinter uns lagen Monate im Gefängnis, fünfundvierzig Tage Etappe auf der Eisenbahn und fünf Tage Meer. Ausgehungert waren alle. Niemandem hatte man Geld auf den Weg mitgegeben. Das Brot wurde gierig gegessen. Der Glückliche, der ein Brot aufgefangen hatte, verteilte es unter allen, die wollten – eine Hochherzigkeit, die wir uns drei Wochen später für immer abgewöhnt hatten.
    Man führte uns immer weiter, immer höher. Die Halte wurden immer häufiger. Und plötzlich ein Holztor, Stacheldraht und dahinter Reihen von regendunklen Segeltuchzelten – weiß und hellgrün, riesig. Wir wurden abgezählt und geteilt, ein Zelt nach dem anderen gefüllt. In den Zelten gab es zweistöckige Holzpritschen, Typus Eisenbahn, jede Pritsche für acht Mann. Jeder nahm seinen Platz ein. Das Segeltuch war leck, Pfützen standen sowohl auf dem Boden als auch auf den Pritschen, aber ich war so erschöpft (und alle anderen waren nicht weniger müde als ich – vom Regen, der Luft, dem Marsch, der durchnässten Kleidung, den Koffern), dass ich, irgendwie zusammengerollt, ohne an das Trocknen der Kleider zu denken – und wo sie auch trocknen –, mich hinlegte und einschlief. Es war dunkel und kalt …
    <1967>

Stille
    Wir alle, die ganze Brigade, setzten uns voller Verwunderung, Argwohn, Vorsicht und Scheu an die Tische der Lagerkantine – die schmutzigen, klebrigen Tische, an denen wir all unser hiesiges Leben lang aßen. Warum die Tische klebrig sein mussten – nicht die Suppe wurde ja hier verschüttet, »niemand führte den Löffel am Mund vorbei« und würde es auch nicht tun, aber es gab ja keine Löffel, und vergossene Suppe würde man mit dem Finger in den Mund holen und einfach auflecken.
    Es war Essenszeit für die Nachtschicht. Unsere Brigade hatte man in die Nachtschicht gesteckt, vor irgendjemandes Augen verborgen – wenn es solche Augen gab! – in unserer Brigade waren die Allerschwächsten, Allerschlimmsten, Allerverhungertsten. Wir waren menschlicher Abfall, und doch musste man uns ernähren, und zwar keineswegs mit Abfällen, nicht einmal mit Resten. Auch für uns brauchte man Fette und warmes Essen, und vor allem – Brot, in der Qualität genau dasselbe Brot, das die besten Brigaden bekamen, die sich ihre Kräfte noch bewahrt hatten und den Plan noch brachten in der wichtigsten Produktion – die Gold, Gold, Gold brachten …
    Wenn sie uns schon ernährten, dann als allerletzte, ob nachts, ob tags – ganz egal.
    Auch heute Nacht waren wir als letzte an die Reihe gekommen.
    Wir wohnten alle in einer Baracke, in einer gemeinsamen Sektion. Ich kannte einige von diesen Halbleichen – aus dem Gefängnis, aus den Etappen. Ich bewegte mich jeden Tag mit einem Haufen von zerrissenen Steppjacken, von StoffOhrenmützen, die von einem Badetag zum anderen auf dem Kopf blieben; von
burki
, aus zerrissenen Hosen zusammengesteppt und angesengt an den Lagerfeuern, und nur dank meines Gedächtnisses erkannte ich, dass unter ihnen sowohl der rotgesichtige Tatare Mutalow war – der einzige Bewohner von ganz Tschimkent , der ein zweistöckiges Haus mit Blechdach besaß, als auch Jefimow, ehemaliger Erster Sekretär des Stadtparteikomitees von Tschimkent, der im Jahr dreißig Mutalow als Klasse liquidiert hatte.
    Hier war auch Oksman, der ehemalige Chef der Politabteilung einer Armeedivision, der von Marschall Timoschenko, damals noch nicht Marschall, als Jude aus
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