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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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Leben und dem, was man in Zahlen, in Schubkarren, in Planprozenten ausdrücken konnte. Die Zahlen waren Blasphemie. Aber für eine Stunde, einen Augenblick waren unsere Kräfte, die seelischen und physischen, nach diesem nächtlichen Mittagessen gewachsen.
    Und ich begriff – und der Gedanke ließ mich erstarren –, dass dieses nächtliche Mittagessen dem Sektierer die Kraft zum Selbstmord gegeben hat. Das war die Portion Grütze, die meinem Partner gefehlt hatte, um den Entschluss zu fassen zu sterben – manchmal muss sich ein Mensch beeilen, um den Willen zum Tod nicht zu verlieren.
    Wie immer standen wir um den Ofen. Nur Hymnen sang heute niemand. Und ich war am Ende sogar froh über diese Stille.
    1966

Zwei Begegnungen
    Mein erster Brigadier war Kotur, ein Serbe, der sich nach der Zerschlagung des Internationalen Klubs in Moskau an der Kolyma wiederfand. Kotur nahm seine Brigadierspflichten nicht sehr ernst, er begriff, dass sich sein Schicksal, wie das von uns allen, nicht in den Goldgruben entscheidet, sondern an ganz anderem Ort. Im Übrigen setzte uns Kotur jeden Tag zur Arbeit ein, vermaß mit dem Aufseher unsere Ergebnisse und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Die Ergebnisse waren jämmerlich.
    »Komm, du hier – du kennst das Lager. Zeig, wie man die Schaufel schwingt«, bat Kotur.
    Ich nahm die Schaufel und karrte, die lockere Erde aufbrechend, die Schubkarre heran. Alle lachten.
    »So arbeiten nur Drückeberger.«
    »Sprechen wir darüber in zwanzig Jahren.«
    Aber in zwanzig Jahren sollten wir nicht darüber sprechen. Im Bergwerk war ein neuer Chef angekommen, Leonid Michajlowitsch Anissimow. Schon bei der ersten Begehung der Gruben entließ er Kotur. Und Kotur verschwand …
    Unser Brigadier hatte in einer Schubkarre gesessen und war beim Näherkommen des Chefs nicht aufgestanden. Die Schubkarre ist ohne Zweifel sehr tauglich für die Arbeit. Aber noch tauglicher ist ihr Kasten für eine Pause. Es ist schwer, aufzustehen, sich zu erheben aus dem tiefen, tiefen Sessel – es braucht eine Willensanstrengung, es braucht Kraft. Kotur saß in der Schubkarre und stand nicht auf, als der neue Chef kam, konnte nicht rechtzeitig aufstehen. Erschießung.
    Mit der Ankunft des neuen Chefs – anfangs war er stellvertretender Bergwerkschef – wurden jeden Tag und jede Nacht Leute aus den Baracken geholt und weggefahren. Keiner von ihnen kehrte ins Bergwerk zurück. Aleksandrow, Kliwanskij – die Namen schwanden aus dem Gedächtnis.
    Der neue Nachschub hatte erst gar keine Namen. Im Winter 1938 hatte die Leitung beschlossen, die Etappen zu Fuß von Magadan in die Gruben des Nordens zu schicken. Von einer Kolonne von fünfhundert Mann kamen nach den fünfhundert Kilometern bis Jagodnoje dreißig, vierzig an. Die anderen blieben auf dem Weg – erfroren, verhungert, erschossen. Mit Namen wurde niemand von diesen Ankömmlingen angesprochen – das waren Leute aus fremden Etappen, die weder an der Kleidung noch der Stimme, noch den Erfrierungsflecken auf den Wangen oder den Erfrierungsblasen an den Händen auseinanderzuhalten waren.
    Die Brigaden schrumpften – auf der Straße zur »Serpantinka«, zur Erschießungsaußenstelle der Nördlichen Verwaltung, fuhren Tag und Nacht Fahrzeuge, die unbeladen zurückkamen.
    Die Brigaden wurden zusammengelegt – es fehlten Leute, und die Regierung versprach Arbeitskräfte gegen Erfüllung des Plans. Jeder Bergwerkschef wusste, dass ihn für die Menschen niemand zur Verantwortung zieht: von wegen, sie sind das Wichtigste – die Menschen, die Kader . All das hatte jeder Chef in den Politzirkeln gelernt, und die praktische Illustration bekam er in den Goldgruben seines Bergwerks.
    Zu dieser Zeit war Chef des Bergwerks »Partisan« von der Nördlichen Bergwerksverwaltung Leonid Michajlowitsch Anissimow, der künftige große Chef an der Kolyma, der sein Leben dem Dalstroj widmete – der künftige Chef der Westlichen Verwaltung, Chef von Tschukotstroj .
    Ihren Anfang nahm Anissimows Lagerkarriere im Bergwerk »Partisan«, in meinem Bergwerk.
    Eben zu seiner Zeit wurde das Bergwerk überschwemmt mit Begleitposten, wurden Zonen und Verwaltungen des »Fahnder«-Apparats eingerichtet, begann die Erschießung von ganzen Brigaden, von Einzelpersonen. Es begann das Verlesen der endlosen Erschießungsbefehle bei den Appellen und beim Ausrücken. Diese Befehle waren unterschrieben von Oberst Garanin, doch die Namen der Leute aus dem Bergwerk »Partisan« – und das waren sehr viele
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