Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
»Hier ist ein Fehler, ich bin nicht der, den man zum Nutzen des Staates umbringen muss, ich kann selbst töten!«
    Ich kenne die Leute nicht, die Erschießungsbefehle gegeben haben. Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen. Aber ich denke, dass ein Erschießungsbefehl sich auf dieselben seelischen Kräfte, auf dieselben seelischen Fundamente stützt wie das Erschießen, das eigenhändige Morden selbst.
    Macht bedeutet Zerstörung.
    Der Rausch der Macht über Menschen, Straflosigkeit, Verhöhnungen, Erniedrigungen, Vergünstigungen sind das moralische Maß der Karriere eines Chefs.
    Aber Sujew schlug weniger als die anderen – wir hatten Glück.
    Wir waren gerade zur Arbeit gekommen, und die Brigade drängte sich im Unterschlupf – versteckte sich hinter einem Felsvorsprung vor dem schneidenden scharfen Wind. Das Gesicht mit den Handschuhen bedeckend, kam Sujew zu uns, der Vorarbeiter. Alle waren zu den Arbeitsstellen ausgerückt, zu den Gruben, und ich hatte nichts zu tun.
    »Ich habe eine Bitte an dich«, sagte Sujew, atemlos vom eigenen Mut, »eine Bitte. Keinen Befehl! Schreib mir eine Eingabe an Kalinin . Meine Vorstrafe aufheben. Ich erzähle dir, worum es geht.«
    In der kleinen Bude des Vorarbeiters, wo der Ofen brannte und wo man unsereins nicht hineinließ – jeder Arbeiter, der es wagte, die Tür zu öffnen, um auch nur für einen Moment diese heiße Luft des Lebens zu atmen, wurde mit Fußtritten und Backpfeifen verjagt.
    Ein animalischer Drang führte uns zu dieser heißersehnten Tür. Wir dachten uns Bitten aus: »Wie spät ist es?«, Fragen: »Geht es rechts zur Grube oder links?«, »Könnten Sie mir Feuer geben?«, »Ist vielleicht Sujew hier? Dobrjakow?«
    Aber diese Bitten täuschten niemanden in der Bude. Durch die offene Tür wurden die Fragenden mit Fußtritten in den Frost zurückgeschickt. Trotzdem ein Moment der Wärme …
    Jetzt wurde ich nicht verjagt, ich saß direkt am Ofen.
    »Was ist das, ein Jurist?«, zischte jemand verächtlich.
    »Ja, er wurde mir empfohlen, Pawel Iwanowitsch.«
    »Gut, gut.« Das war der Chef der Vorarbeiter, er ging auf die Bedürfnisse seines Untergebenen ein.
    Sujews Verfahren – seine Haft war schon letztes Jahr zuende gegangen – war ein ganz gewöhnliches Dorf-Verfahren, das mit dem Unterhalt an die Eltern begann, der Sujew dann ins Gefängnis brachte. Bis zum Ende der Haftzeit war nur wenig geblieben, aber den Chefs war es noch gelungen, Sujew an die Kolyma zu befördern. Die Kolonisierung der Region verlangt eine harte Linie beim Errichten von allerlei Hindernissen für das Verlassen und ein ständiges Bemühen um das Anreisen, das Heranschaffen von Menschen an die Kolyma. Ein Häftlingstransport ist bloß der einfachste Weg, das neue, schwierige Land bewohnbar zu machen.
    Sujew wollte mit Dalstroj abschließen, er bat darum, seine Vorstrafe zu tilgen, ihn wenigstens aufs Festland ziehen zu lassen.
    Es fiel mir schwer zu schreiben, und nicht nur, weil die Hände grob geworden, weil die Finger gekrümmt waren um den Stiel der Schaufel und der Spitzhacke und es unwahrscheinlich schwer war, sie wieder gerade zu biegen. Mir blieb nur, den Bleistift und die Feder mit einem dickeren Lappen zu umwickeln, um den Stiel einer Spitzhacke, einer Schaufel nachzuahmen.
    Als ich darauf kam, es so zu machen, war ich bereit, Buchstaben zu formen.
    Es fiel mir schwer zu schreiben, weil mein Gehirn genauso grob geworden war wie die Hände, weil mein Gehirn genauso blutete wie die Hände. Die Worte, die schon aus meinem Leben verschwunden waren, und zwar, wie ich annahm, für immer, mussten wiederbelebt, auferweckt werden.
    Ich schrieb dieses Schriftstück, schwitzte und freute mich. In der Bude war es heiß, und gleich belebten sich die Läuse und krochen über den Körper. Ich hatte Angst, mich zu kratzen, damit man mich nicht als Verlausten in den Frost hinausjagt, hatte Angst, meinem Retter Ekel einzuflößen.
    Gegen Abend hatte ich das Gesuch an Kalinin geschrieben. Sujew dankte mir und schob mir eine Brotration in die Hand. Die Ration musste ich sofort essen, überhaupt soll man alles, was man gleich essen kann, nicht auf morgen verschieben – das hatte ich gelernt.
    Der Tag ging schon zu Ende – nach der Uhr der Vorarbeiter, denn der weiße Nebel war derselbe um Mitternacht und um zwölf Uhr mittags –, und man führte uns nach Hause.
    Ich schlief und hatte wieder meinen ständigen Kolyma-Traum – Brotlaibe, die durch die Luft flogen und alle Häuser, alle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher