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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Abscheuliches Novemberwetter. Soviel Schmutz in den Straßen, als ob die Wasser des Himmels sich eben erst von der neugeschaffenen Erde verlaufen hätten und es gar nichts Wunderbares wäre, wenn man einem vierzig Fuß langen Megalosaurus begegnete, wie er gerade – ein Elefant unter den Eidechsen – Holborn-Hill hinaufwatschelt.
    Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so groß wie ausgewachsene Schneeflocken, die in schwarzen Kleidern den Tod der Sonne betrauern wollen.
    Nebel überall. Nebel stromauf, wo der Fluss zwischen Buschwerk und Wissen dahinfließt; Nebel stromab, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und dem Uferunrat der großen, unsauberen Stadt durchwälzt. Nebel über den Sümpfen von Essex und Nebel auf den Höhen von Kent. Nebel kriecht in die Kabusen der Kohlenschiffe; Nebel liegt draußen auf den Rahen und klimmt durch das Tauwerk; Nebel senkt sich durch die Deckverkleidung der Barken und Boote. Nebel dringt in die Augen und Kehlen der alten Greenwichinvaliden, die am Kamin in ihren Kämmerchen husten und keuchen, dringt in das Rohr und den Kopf der Shagpfeife des grimmigen Schiffseigners unten in seiner engen Kajüte und beißt grausam in Zehen und Finger des fröstelnden kleinen Schiffsjungen auf Deck. Passanten schauen von den Brücken herab über die Geländer in einen Nebelhimmel und sind rings von Nebel umgeben, als ob sie in einem Luftballon mitten in grauen Wolken hingen.
    Gaslampen stieren in den Straßen trübäugig durch den Nebel wie draußen die Sonne wohl auf den durchweichten Feldern. Die meisten Läden haben zwei Stunden vor der Zeit angezündet, und das Gaslicht scheint es zu wissen, denn es sieht schmal und mürrisch aus.«

II. Dickens’ Kunst der Anfänge und Räume
    Anfänge sind die Tore, durch die wir als Leser die Welt eines Autors betreten. Allein deshalb haftet ihnen etwas Magisches an. Dickens’ Anfänge sind oftmals bereits ganze Expositionen dessen, was wir in seinen Büchern zu erwarten haben. Sie enthüllen den Stil, sind Einstimmungen auf die Tonlagen, die folgen.
    Vielleicht gefällt es mir gerade deshalb, über Anfänge zu schreiben, weil sie für mich als Schriftsteller bei meiner Arbeit an einem Buch etwas Besonderes haben. Natürlich muss der Anfang, mit dem man seinen Roman beginnt, nicht das erste sein, was man tatsächlich geschrieben hat. Man kann genauso gut nachträglich einen Anfang (er)finden, ihn gewissermaßen als Schlussstein nach dem Verfertigen neu einsetzen. Aber mir ist es bisher anders ergangen. Für mich wohnt dem Anfang nicht nur ein besonderer Zauber inne, sondern aus einem Anfangsbild entwickelte sich mein erster Roman, und ich glaube, dass mein zweiter gerade einen ähnlichen Weg nimmt. Schreiben heißt auswählen, sich beschränken. Mit jeder Entscheidung, die getroffen wird, mit der Perspektivwahl, den Hauptfiguren, den Sujets, den Zeiten und Räumen, fokussiert man die Welt, nimmt ein Stück von ihr genauer in den Blick. Nur dadurch entsteht etwas, nur durch das Sich-Einlassen auf ein bestimmtes Szenario gewinnt das Chaos des Unbestimmten und Allgemeinen die Ordnung des Bestimmten.
    Ort, Zeit und Wetter, diese klassische Eröffnung der Szenerie wird von Dickens zur Verwandlung Londons in eine halb biblische, halb erdfrühgeschichtliche Landschaft benutzt. Hier zaubert einer im vierten Satz einen Megalosaurier auf die Straße. Doch diese ironische Transformation der Gegenwart durch andere Zeiten ist noch nicht alles.
    In der süffig-düsteren Beschreibung sieht man London. Dies Dickenslondon mit seinen Schloten, dem Schmutz, der zinsgierigen Fratze des imperialen Kapitalismus und der bei aller Dreckigkeit faszinierenden Welt der Straße. Nebel dringt überall ein. Er durchzieht die Stadt wie ein Band, verbindet alle Orte miteinander, entwirft eine urtümliche, biblische, thermodynamisch sich in Rußbatzen auflösende, frühindustrielle Landschaft der Apokalypse. Der allwissende Erzähler folgt dem Nebel, dieser drohenden Metapher für alles Undurchsichtige, das der Roman im Folgenden verhandeln wird. Er führt uns in ein Zentrum, an jenen Ort, wo sich die Schicksalsfäden der Romanfiguren treffen werden, wo, teilweise schon vor ihrer Geburt, ihre Geschichte mit jener Geschichte eines unseligen, scheinbar schon ewig währenden Gerichtsprozesses verknüpft worden ist: Jarndyce gegen Jarndyce. Es geht nach Chancery Court, ins hohe Kanzleigericht:
    »Am rauhesten ist der
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