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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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darauf angelegt ist, aus Projekten immer neue Projekte hervorgehen zu lassen, aus denen wiederum neue Projekte hervorgehen und so weiter und so fort.
    Man sieht: Es wäre falsch, sich am immer noch kursierenden Vorurteil über die Romantik zu orientieren, mit dem der Autor (und immer wieder Novalis) als einsamer, esoterischer Träumer verstanden wird, der in sich gekehrt seine Texte schreibt und mit der schnöden Außenwelt abgeschlossen hat. Das Gegenteil ist der Fall, und man kann sich davon durch die Lektüre der Fragmente überzeugen: Hier wird die Welt nicht ausgeschlossen. Sie wird in das Verknüpfen und Verschalten emphatisch einbezogen.
    So hat man es bei den Frühromantikern gerade nicht mit einsamen Träumern zu tun. Man muss sie sich als avancierte Projektmanager denken, die ihre einzelnen Arbeiten, Wahrnehmungen, Lektüren, sozialen Kontakte so organisieren, dass produktive Spannungen entstehen. Mehr noch: Sie verstehen sich selbst als individuelle Projektformationen, in denen selbst wiederum nur Heterogenes so miteinander verbunden ist, dass es produktiv werden kann. »Jeder Mensch«, heißt es folgerichtig in den Blütenstaub - Fragmenten , »ist eine kleine Gesellschaft«. Als solche führt er kleine Selbstgespräche, die in größere Gespräche eingespeist werden und sich auch umgekehrt aus größeren Gesprächen speisen.
    Wer das ästhetische Netzwerkprogramm von Novalis studiert, wer seine Fragmente liest und wer sich das Fragment vom wahren Leser als erweitertem Autor über den Tisch, das Bett oder an den Spiegel hängt und in die Bücher legt, wird deshalb vor allem an eins erinnert: dass das Schreiben nichts anderes als eine Verknüpfungsarbeit ist, durch die ganz Unterschiedliches so miteinander verbunden wird, dass sich etwas spannungsreiches Neues ergibt, aus dem sich wieder etwas Neues ergeben kann. Und erinnert wird man daran, dass sich diese Verknüpfungsarbeit am besten als Projekt verstehen lässt, das Teil eines umfassenderen Projekts ist, das wiederum in ein noch umfassenderes Projekt eingebettet ist.
    Wer das umsetzt, kann sich im Handumdrehen in eine romantische Schreibmaschine verwandeln, die sich wie von selbst bewegt. Man kann es versuchen. Immerhin wäre das ein echtes Projekt (das man ja probeweise mit anderen Projekten verbinden könnte …).
    Aber nicht vergessen: Auch in diesem Fall muss man ein wahrer Leser und ein erweiterter Autor sein. Wer bei allem, was er liest, sich als niedere Instanz versteht und deshalb jedes Wort beim Wort nimmt, mag ein ehrenfester Mensch sein. Ein echter romantischer Projektemacher ist er nicht.

Aufgabe
    65. Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Wer viel Geist hat, macht viel aus seinem Leben – jede Bekanntschaft, jeder Vorfall wäre für den durchaus Geistigen – erstes Glied einer unendlichen Reihe – Anfang eines unendlichen Romans.
    Fangen Sie an.

MATTHIAS GÖRITZ
    Wie man eine Münze wirft und wieder fängt
    Charles Dickens: Bleak House [1852]

I. Ein Anfang im Nebel
    1851 ist die Weltausstellung gerade zu Ende gegangen, das Empire glaubt sich auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung und Macht. In der famosen Architektur des Crystal Palace zeigt sich kein Riss, alles glitzert und glänzt in England, London – oder?
    Es ist dies die Epoche, in der ein Schriftsteller, der zu den besten und populärsten dieses Zeitalters gehört, in einem Zustand abartiger Erschöpfung einen neuen Roman beginnt. Abartig erschöpft, weil Dickens wie gewohnt als Schauspieler, Dramaturg, Regieassistent, Bühnenhelfer in einer Person an der triumphalen Laienaufführung der Komödie Nicht so schlecht, wie wir scheinen seines Freundes Bulwer-Lytton mitwirkte.
    Dickens machte sich daran, die Grundfesten des Zeitalters zu attackieren. Das Ergebnis ist Bleak House , ein Gesellschaftsroman über Justiz, geheime Papiere, Fernsten- und Nächsten-Liebe, bürgerliche, feudale und andere Apokalypsen vom Rand der Gesellschaft, ein Pulverfass gegen das selbstgewisse Gutmenschentum, wie es paradoxerweise gerade dem Romancier Charles Dickens immer wieder angedichtet wird.
    Es ist die Romaneröffnung von Bleak House , ein erzählerischer Parforceritt, der panoramaartig in den Schauplatz des Geschehens einführt und den ich in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen möchte. Und diese Betrachtung führt zunächst in den Nebel:
    »London. Der Michaelitermin ist vorüber, und der Lordkanzler sitzt in der Lincoln’s-Inn-Hall.
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