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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Schreiben zu erkennen, wie die Kultur, in der man schreibt, ihre Bedeutungen produziert.

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    120. Wer Fragmente dieser Art beim Wort halten will, der mag ein ehrenfester Mann sein – nur soll er sich nicht für einen Dichter ausgeben. Muß man denn immer bedächtig sein? Wer zu alt zum Schwärmen ist, vermeide doch jugendliche Zusammenkünfte. Jetzt sind literarische Saturnälien – je bunteres Leben, desto besser.

    Wenn es um die Frage geht, was man lesen soll, wenn man schreiben will, sollte man vielleicht gleich die ganze Sammlung der Blütenstaub-Fragmente empfehlen. Das 125. Fragment erinnert daran, dass der wahre Leser ein erweiterter Autor sein muss. Aber erst alle Fragmente zusammen zeigen, was konkret damit gemeint ist.
    Novalis ist ein notorischer Notierer. Seine Fragmente und Studien sind das romantische Labor, in dem er mit Gedanken experimentiert. Dieses Labor bildet das eigentliche Zentrum seines Werkes. Von hier aus wird alles andere auf magnetische Weise zusammengehalten und elektrisiert.
    Da gibt es die so genannten Fichte-Studien . Sie umfassen knapp 500 handschriftlich beschriebene Seiten. Mit ihnen hat Novalis bis 1797 seine intensive Lektüre der Fichte-Texte begleitet. Auf diese Studien folgen bis 1798 die Vermischten Bemerkungen , aus denen Novalis die Blütenstaub - Fragmente destilliert. Sie überschneiden sich mit den Politischen Aphorismen und weiteren Fragmenten und Studien , den Naturwissenschaftlichen Studien und dem Allgemeinen Brouillon , von denen allein das letztere 356 Seiten mit 1151 Aufzeichnungen umfasst. Schließlich gibt es, aus Novalis’ letztem Lebensjahr, noch einmal umfangreiche Fragmente und Studien , die von der Forschung als »das Vermächtnis des romantischen Dichters und Denkers« gelesen werden.
    Zählt man das zusammen, muss man sich den Leser Novalis ganz praktisch als einen fortwährend Schreibenden vorstellen, als einen daueraktiven Protokollanten, der parallel zu jeder Lektüre die eigenen Gedanken fixiert: vom Exzerpt und der flüchtigen Notiz über den Merksatz, den funkelnden Aphorismus, die Aufzählung bis zum längeren Gedankenspiel. Dazwischen finden sich immer wieder kryptische Notizen, die spürbar machen, mit welcher Dynamik und welchem Spaß am Hochdrehen Novalis die Einfälle notiert: »Die äußere Sozialisation ist nur Ermangelung innerer Selbstheterogeneisierung – und Berührung.!!!!!«
    Jede einzelne Notiz bewegt sich in der Schnittmenge von Abgeschriebenem, Nachgesprochenem, Weitergedachtem und Gesponnenem. Das Blatt Papier wird zum Ort, an dem die klarsten logischen Schlussfolgerungen mit ganz persönlichen Erfahrungen (und umgekehrt die ganz persönlichen Erfahrungen mit logischen Schlussfolgerungen) aufgeladen werden. Der Stift wird zum seismographischen Medium, das in Linien fixiert, welche größeren und kleineren Beben sich im Kopf des Lesenden und Denkenden ereignen.
    Das Blütenstaub-Programm (»Fragmente wie diese sind literärische Sämereien«) gilt für alle Mitschriften, die Novalis angefertigt hat. Für sie gilt auch, was Novalis hinzugefügt hat: »Es mag freilich manches taube Körnchen darunter sein – indes wenn nur einiges aufgeht.« Damit gibt Novalis nicht nur einen Hinweis, wie die Fragmente zu lesen sind. Er gibt auch einen Hinweis, wie und warum er sie schreibt.
    Er schreibt sie en masse . Mitschriften, Gedankenprotokolle anfertigen heißt: konzentriert unkontrolliert schreiben. Novalis bringt nur das aufs Blatt, was ihm beim Lesen, Beobachten und Nachdenken jetzt in den Sinn kommt. Das aber heißt auch: Die Notizen werden nicht überarbeitet. Sie erscheinen auf dem Papier als unmittelbare, seismographische Reaktionen auf das, was im Kopf passiert. Sie werden deshalb auch nicht systematisch aufeinander bezogen. Es gibt keinen Erzählbogen. Die einzelnen Stücke müssen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander stehen, um von selbst Spannungen zu erzeugen. Nicht Homogenität, sondern Heterogenität ist das Prinzip, nach dem sie sich organisieren.
    Weil das so ist, darf beim Notieren keine Kontrollinstanz sagen: ›Das widerspricht sich‹. ›Spinn nicht rum‹. ›Das ist Kitsch‹. Oder: ›Stimmt nicht, denk doch mal nach‹. Wichtig ist (erst einmal) nicht, was geschrieben wird. Wichtig ist, dass geschrieben wird. Der Schreibakt selbst ist das Wichtigste.
    Der notorische Notierer Novalis notiert so viel, weil es um die Geste des Schreibens als Umschreiben und Weiterschreiben geht. Notiert wird um
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