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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Jahrhunderts erzählt, der zu seinem Leidwesen in einem Kontor arbeiten muss: Er habe da, so Lichtenberg, statt angenommen stets Agamemnon gelesen.‹
    Sieht so ein Aphorismus aus? Der junge Homerbesessene, das Kontor, das Leidwesen – deuten solch breit ausgeführte Details nicht eher auf eine etwas mühselig pointierte Kurzgeschichte hin? Aber hat Lichtenberg dergleichen überhaupt je geschrieben?
    Am 7. August jedenfalls erzählte euer Theaterkritiker Gerhard Stadelmeier eine deutlich andere Version. Er erinnert sich in seiner Glosse ›Homerwandel‹ seiner humanistisch gebildeten Lehrer und folgert: ›Auf sie kann man noch immer oder schon wieder Lichtenbergs epigrammatischen Witz machen, dass es Leute gäbe, die seien so gebildet, dass sie statt ›angenommen‹ immer ›Agamemnon‹ sagten.‹
    Kein einzelner junger Homerbesessener im Kontor mehr, stattdessen gebildete Leute, und die lesen auch nicht mehr Agamemnon statt angenommen, sondern sie sagen es – zeugen solche etwas krausen Artikulationsschwierigkeiten wirklich vom epigrammatischen Witz? Oder sollte Lichtenberg den Sachverhalt ganz anders artikuliert haben?«
    Diese Frage wurde bereits beantwortet. Ich zitiere nur noch den Schluss. »Wir lernen: Wenn ein Aphorismus und ein Blatt zusammenstoßen und es hohl klingt, muss das nicht unbedingt am Aphorismus liegen. Wir empfehlen: Wer in der FAZ-Redaktion zwei Paar Hosen hat, mache eines zu Geld und schaffe sich eine verlässliche Lichtenberg-Ausgabe an, bevor er sich aufs Raten verlegt.«
    Nun aber rasch noch einmal zurück zum Lehrmeister Lichtenberg. Verschwiegen wurde bis jetzt, dass Lichtenberg uns vor allem lehrt, dass Vergnügen, Belustigung, ja Lachen durchaus mit Wahrheitsfindung und Erkenntnisgewinn zusammengehen können. »Es hat mir wollen behagen, lachend die Wahrheit zu sagen«, dichtete bereits Grimmelshausen während des 30jährigen Krieges. Ein Behagen, das Lichtenberg jahrzehntelang geteilt und mitgeteilt hat, und das heute noch dafür sorgt, dass der normale Lichtenberg-Leser nach jedem Blick in die Sudelbücher die Welt weniger vernagelt, dafür klarer und hin und wieder auch erfreulicher wahrnimmt. Ein guter Grund, zu staunen und dem Lehrmeister Lichtenberg zu danken.

Aufgabe
    Man nehme ein Notizbuch, dem man einen Titel gibt, der Lichtenberg gefallen hätte (aber Achtung: Sudel -, Schmier- und Gedankenbuch sind bereits von Lichtenberg belegt). Dann empfiehlt sich die Lektüre der Sudelbücher , und zwar unter folgender Prämisse Lichtenbergs:
    »Wenn man einen guten Gedanken liest, so kann man probieren, ob sich etwas Ähnliches bei einer anderen Materie denken und sagen lasse. Man nimmt hier gleichsam an, dass in der andern Materie etwas enthalten sei, das diesem ähnlich sei. Dieses ist eine Art von Analysis der Gedanken, die vielleicht mancher Gelehrter braucht, ohne es zu sagen.«
    Und warum sollen es nicht auch Schriftsteller brauchen können? Aufgabe wäre also, Lichtenbergs Satz ins Notizbuch einzutragen und auf das eigene Lesen und Schreiben zu übersetzen. Dann wäre immer weiter zu notieren, wie man das, was man liest, in anderen Texten ausprobieren kann.

STEPHAN POROMBKA
    Für wahre Leser und erweiterte Autoren
    Novalis: Blütenstaub-Fragmente [1798]

Lesen / Schreiben
    125. Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beim Lesen wieder das Rohe und das Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch, daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischtätige Gefäße kommt, die Masse endlich wesentlicher Bestandteil – Glied wirksamen Geistes.

    Eigentlich müsste man nur diesen kurzen Text empfehlen, wenn es um die Frage geht, was man lesen soll, wenn man schreiben will. Nur diesen einen kurzen Text, in dem alles steckt, was man braucht, um anzufangen, um weiterzumachen und nicht mehr aufzuhören. Man könnte ihn auf einen Zettel schreiben und über den Arbeitstisch hängen, an den Spiegel oder übers Bett. Man könnte ihn in die Bücher legen, die man gelesen hat und noch lesen wird. Und man könnte ihn an die eigenen Texte heften, wenn man sie weitergibt und vielleicht gedruckt zurückbekommt und lesen kann, als wären sie von eigener und doch von fremder Hand geschrieben.
    Es
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