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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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gemeinhin Sicherheiten anbietet, streut Lichtenberg Zweifel: »Immer sich zu fragen, sollte hier nicht ein Betrug stattfinden«, mahnt er, und er geht noch weiter: »Zweifel an allem wenigstens EINMAL, und wäre es der Satz: zweimal 2 ist 4.«

II.
    Lichtenberg weiß, dass der Verstand allein die notwendigen Zweifel zu leisten nicht imstande ist. Größere Stücke hält er auf die Phantasie, also auf seine Einbildungskraft. »Seine Einbildungskraft« – Lichtenberg spricht von sich in der dritten Person -, »seine treueste Gefährtin, verlässt ihn alsdann nie; er steht hinter dem Fenster, den Kopf in die zwo Hände gestützt, und wenn der Vorbeigehende nichts als den melancholischen Kopfhenker sieht, so tut er sich oft das stille Bekenntnis, das er im Vergnügen wieder ausgeschweift hat.«
    Die Ausschweifungen von Lichtenbergs Einbildungskraft haben es in sich. Wenn die, Seite an Seite mit Lichtenbergs Verstand, erst einmal zu zweifeln beginnt, dann wehe Gott und allen anderen Übereinkünften, in welchen sich der Durchschnittsmensch sicher glaubte. Nichts da! Stattdessen werden sie allesamt unter Totalverdacht gestellt.
    Lichtenberg bezweifelt die Geschlechtsrolle Gottes in der Kurzeintragung: »Mutter unser die du bist im Himmel«, womit man in ihm einen der Begründer der feministischen Theologie sehen könnte.
    Er bezweifelt die Existenz Gottes: »Gott schuf den Mensch nach seinem Bilde, das heißt, vermutlich der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.« Er belegt diese Vermutung mit einem Beispiel aus der Völkerkunde: »Die Indianer nennen das höchste Wesen Pananad oder den Unbeweglichen, weil sie selber gerne faulenzen.«
    Er fühlt dem Heldentum auf den Zahn: »Die Könige glauben oft, das was ihre Generale und Admirale tun, sei Patriotismus oder Eifer für ihre eigene Ehre. Öfters ist die ganze Triebfeder großer Taten ein Mädchen, welches die Morgenzeitung liest.«
    Er misstraut Deutschtümelei und Deutschtun. »Es gibt heuer eine gewisse Art Leute, meistens junge Dichter, die das Wort deutsch fast immer mit offenen Naslöchern aussprechen. Ein sicheres Zeichen, dass der Patriotismus bei diesen Leuten sogar auch Nachahmung ist. Wer wird immer mit dem Deutschen so dicke tun? Ich bin ein deutsches Mädchen, ist das etwa mehr, als ein englisches, russisches oder othaheitisches?«
    Mehr noch: Lichtenberg verzichtet auf den bis in unsere Tage gängigen Trost, in exotischen Gefilden hätten edle Wilde die Lösung der Menschheits- und Gesellschaftsprobleme gefunden. Was hätte er wohl zu Maos China gesagt? Zu den Exoten seiner Zeit jedenfalls findet er klare Worte: »Die Kunst, Menschen mit ihrem Schicksale missvergnügt zu machen, die heute so sehr getrieben wird. O wenn wir doch die Zeit der Patriarchen wieder hätten, wo die Ziege neben dem hungrigen Löwen graste, und Kain in den zärtlichen Umarmungen seines Bruders Abel seine Saecula durchlebte (hier müssten noch mehr solche feinen Geschichten ausgesucht werden, von Sodomie, Betrug und Erstgeburt), oder in dem glücklichen Othaheite, wo man für einen eisernen Nagel haben kann, was in Hannover und Berlin goldene Tabatieren und Uhren gilt, und wo man bei völliger Gleichheit der Menschen das Recht hat, seine Feinde aufzufressen und von ihnen gefressen zu werden.«
    Was für Lichtenberg allerdings nicht bedeutet, seine Landsleute wären einen Deut besser: »Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß.«
    Ein Schlachten, das die Großdichter seinerzeit als heldisch zu rühmen pflegen, wenn einer nicht, wie Klopstock, an Großdichtungen wie dem Messias arbeitete, die von der Mitwelt mit hochherzigem Jubel empfangen und – aber das gestand sich damals niemand ein – mit abgrundtiefer Langeweile gelesen wurden. Auch da tanzt Lichtenberg aus der Reihe: »Ich lese die TAUSEND und eine Nacht und den Robinson Crusoe, den Gilblas, den Findling, TAUSEND mal lieber die Messiade, ich wollte 2 Messiaden für einen kleinen Teil des Robinson Crusoe hingeben. Unsere meisten Dichter haben, ich will nicht sagen, nicht Genie genug, sondern nicht Verstand genug, einen Robinson Crusoe zu schreiben.«

III.
    Lichtenberg lehrt, dass es Fragen gibt, deren Antwort man besser der Mitwelt überlässt. Fragen wird man ja schon mal dürfen, doch damit das nicht sogleich auffällt und dem Adressaten Arbeit signalisiert, kleidet Lichtenberg seine Fragen gerne in Aussagesätze: »Da werden die Engel einmal recht gelacht haben.« So viel zu der Oberwelt, doch auch in der
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