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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Unterwelt gibt es Fragwürdiges: »Nun wüsste ich doch auch fürwahr außer dem Teufel niemanden, der etwas hiergegen aufbringen könnte.« Verkehrte Welt: Was um Himmels willen vermag den Fürsten der Finsternis aus der Fassung zu bringen, ihn, dessen Daseinszweck doch darin besteht, die Geschöpfe, die Geschöpfe Gottes in heillose Fassungslosigkeit zu stürzen? Und was in Dreiteufels Namen mag das Lachen der Engel verursacht haben, deren Reaktion – anders als die Jubelrufe der Freude – nie ganz frei ist von der satanischen Beimischung der Häme, der Überheblichkeit, der Albernheit? In beiden Fällen ist die Antwort ebenso wenig vorgegeben, wie ihrem Inhalt Grenzen gesetzt sind – in Frage kommt so gut wie alles zwischen Himmel und Erde. Eben diese Unendlichkeit aber stellt natürlich das Problem dar für den, der in diesem Heuhaufen der Möglichkeiten nach der Stecknadel des Witzes sucht, in strikter Umkehrung des berühmten Goethe-Satzes, den wir bereits gehört haben: »Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen. Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.«
    Andersrum wird ein Schuh daraus – jedenfalls bei den erwähnten Sätzen: Wo Lichtenberg ein Problem aufwirft, liegt ein Witz verborgen, doch um auf den zu stoßen, muss der Sucher im Besitz einer Fremdwitz sympathetisch reagierenden Wünschelrute sein, also über eigenen Witz verfügen.

IV.
    Große Themen, große Fragen – doch Lichtenberg war zugleich jemand, der das Schlichteste für notierenswert hielt, sobald es ihn, seine Gewohnheiten und seinen Körper betraf: »Er hatte seinen beiden Pantoffeln Namen gegeben.« Oder, körperbezogener: »Es hat mich öfters geschmerzt, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr als drei Mal in einem Atem genieset, noch mich ans Kümmeleckchen gestoßen habe.«
    Auch darin ist Lichtenberg vorbildlich, nur wer geerdet ist, kann sich ungebremst in jene geistigen Höhen emporschwingen, in welchen die letzten Dinge verhandelt werden: »Ich glaube kaum, dass es möglich sein wird zu erweisen, dass wir das Werk eines höchsten Wesens, und nicht vielmehr zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen sind zusammengesetzt worden.«

V.
    Lichtenberg lehrt eine so fruchtbare, wie selten angewandte Technik: den Blickwechsel. Bilderbuchhaft verwendet er ihn in dem folgenden Sudelspruch: »Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.« Auch mit diesem Urteil stand Lichtenberg allein, in seiner Zeit, die geistig und materiell von dem und für den Kolonialismus lebte – da hieß es, folgen wir Rudyard Kipling, The White Man’s Burden zu besingen und nicht dessen Schuld. Die dürfte sich erst in unserer Zeit herumgesprochen haben: Weiße Staatsmänner entschuldigen sich vermehrt bei andersfarbigen Menschen. Sie tun das im Bewusstsein, dass die Raubzüge getätigt sind, die Schuld nicht einklagbar ist und die meisten Opfer keiner Entschuldigung bedürfen, da sie schon früh ausgerottet wurden. Unter ihnen der Amerikaner, der laut Kolumbus eine »böse Entdeckung« machte, als Kolumbus 1492 erstmals seine Insel betrat. Wie recht sie beide hatten, Lichtenberg und der Indianer.

VI.
    Lichtenberg erfand nicht nur, er fand auch. Ihm verdanken wir den Fund des Lichtenbergschen Verlesers: »Er las immer Agamemnon, statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen.« Und er hat mir die Augen dafür geöffnet, wie oft mir ein solcher Verleser bereits passiert ist: Da las ich, etwas beleibt, ›Bauchausstellung‹ statt ›Buchausstellung‹, da las ich, in den italienischen Malern bewandert, ›Cimabue‹ statt ›Klimabau‹, und da las ich in München ›Museum der Reichskristallnacht‹ statt ›Museum Reich der Kristalle‹.

VII.
    Und Lichtenberg lehrt nicht zuletzt Präzision. Ihn zu zitieren heißt, ihn wortwörtlich zu zitieren, und das ist nicht allen gegeben. Als Beispiel möchte ich einen Brief anführen, den ich am 11. August 1999 an die FAZ-Redaktion formuliert habe, ihn jedoch der besseren Verbreitung wegen der Titanic überließ, wo er dann auch in der Kolumne Briefe an die Leser zu lesen war:
    »An die FAZ-Redaktion, betr.: Georg Christoph Lichtenberg. Am 24. Juli feierte euer Kunstkritiker Eduard Beaucamp den Maler Werner Tübke und nahm ihn folgendermaßen gegen den Vorwurf der Staatsmalerei in Schutz: ›Man könnte diesem Einwand einen Aphorismus Lichtenbergs entgegenhalten, der von einem jungen Homerbesessenen des 18.
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