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Eroberer

Eroberer

Titel: Eroberer
Autoren: Stephen Baxter
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einem frischen Heer auf ihn gewartet hat – und in der Schlacht, wenn William nach seinem Sturz vom Pferd liegen geblieben wäre – wenn dieser Pfeil nicht gewesen wäre, der Harold niedergestreckt hat, wenn der Schildwall nur noch eine Stunde standgehalten hätte … Es gibt so viele Wege, wie es hätte geschehen können. Und wir würden jetzt Harolds Weihnachtsfest beiwohnen.«
    »Und wenn eines dieser Wenns eingetroffen wäre? Was dann?«
    Sihtric zog die Lippe zwischen die Zähne. »Nun, wenn Hardrada tot und William gefallen wäre, hätte sich England für eine Generation keiner ernsthaften äußeren Bedrohung gegenübergesehen. Und dann ist da natürlich die Frage der Thronfolge. Knifflige Angelegenheit. Wenn Harold lange genug gelebt hätte, hätte er seinen Sohn mit der Schwester der nördlichen Earls vermählen und ihn so in Edwards Familie einheiraten lassen können. Damit wäre es ihm gelungen, in seinem Enkelsohn das Blut der Godwines, die nördlichen Earls und die Linie Alfreds und der Cerdicinger,
der ältesten königlichen Dynastie in Europa, zu vereinen. Wer könnte dessen Anrecht auf den Thron anfechten?«
    »Das will ich dir sagen«, erwiderte Orm. »Harolds Kinder aus seiner Ehe mit Edith Schwanenhals.«
    »Mag sein, mag sein«, sagte Sihtric. »Aber dazu wird es nun eh nicht mehr kommen.«
    Denn statt künftige Könige großzuziehen, hatte Edith den schrecklich zugerichteten Leichnam ihres Gemahls auf seinem letzten Schlachtfeld identifizieren müssen.
    »Aber wie wäre es weitergegangen?«, fragte Orm, unwillkürlich fasziniert von dieser irrealen Geschichte. »Wenn Harold gesiegt hätte, wenn seine Kinder Edelinge wären und keine Flüchtlinge – was dann?«
    Dann, sagte der Priester, hätte sich England, nachdem seine südlichen Nachbarn geschlagen und in Auflösung geraten seien, dem Norden zugewandt.
    »Stell es dir vor«, sagte Sihtric wehmütig. »Langschiffe voller englischer Waren würden ostwärts nach Konstantinopel und ins Innerste Asiens fahren, und im Westen würden sie jene unbekannten Kontinente erreichen, wo die Wikinger Vinland gegründet haben. England ist jetzt schon reicher als jedes der kleinen Königreiche Frankens, Germaniens oder Italiens; mit der Zeit hätte dieses Bündnis des Nordens den elenden Süden überwältigt. Englands letzte Bande an die Ruinen des Römischen Reiches würden zerschnitten. Und diese ehrgeizigen, brutalen Soldaten-Christen wie William, deren Pläne in England vereitelt worden
wären, hätten ihre Träume von mörderischen Kreuzzügen nach al-Andalus und ins Heilige Land vielleicht begraben müssen.«
    »Und deine Prophezeiung wäre erfüllt«, sagte Orm. »Ein Reich im Norden.«
    »Ja. Oder eine Republik .«
    Orm runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
    »Du hast mir doch erzählt, dass die Wikinger draußen im Meer eine neuartige Gesellschaft begründet haben, in der sich die Landbesitzer und die Reichen versammeln, um gemeinsame Entscheidungen über die Zukunft zu treffen.«
    »Die althings .«
    »Uns Nordleuten liegt die Freiheit im Blut. Wir Germanen sind ohne Könige nach Britannien gekommen. Die Dänen auch. Vielleicht wäre es uns bestimmt gewesen, kein Reich, sondern eine Republik zu errichten, so wie die ersten Römer, mit Jorvik als Hauptstadt, versorgt von einem endlosen Neuland im Westen. Freiheit, Orm, Freiheit in einer neuen Welt. Aber es sollte nicht sein. Stattdessen haben wir Engländer unsere Freiheiten an diese normannischen Rohlinge verloren , und es wird tausend Jahre dauern, sie ihnen wieder zu entreißen.«
    »All dies hing von der Schlacht bei Haestingaceaster ab. Die ganze Welt wäre für immer anders, wenn …«
    »Ja. Aber die Gelegenheit ist vertan, und damit hat sich’s«, sagte Sihtric energisch, beinahe geschäftsmäßig. »Das arische Reich ist verloren. So wie das Leben
mit Godgifu, das dir vielleicht vergönnt gewesen wäre.«
    Orm erstarrte. »Sihtric — deine Schwester …«
    Sihtric winkte ab. »Sie hätte nicht im Wall kämpfen sollen. Mach dir keine Vorwürfe. Und ihr auch nicht. Gib die Schuld den ehrgeizigen Männern, die uns in den Krieg geführt haben. Oder dem Teufel, oder den Kriegsgöttern der Heiden. Gib Mars die Schuld – ja, genau.« Er sah Orm aufmerksam an. »Du musst dir ein neues Leben aufbauen«, sagte er. »Ohne sie. So gut du kannst. So wie ich auch.«
    Orm nickte. Das Sprechen fiel ihm schwer. »Du vergibst mir. Vielleicht wird doch noch ein guter Priester aus dir,
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