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Erloschen

Erloschen

Titel: Erloschen
Autoren: Alex Kava
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tat, was sie tat. Erklären könnte sie es nicht.
    »Da war so viel Blut«, sagte Racine leise. »Ich habe den Sanitätern gesagt, dass sie schnell machen sollen, habe erst versucht, die Blutungen mit bloßen Händen zu stoppen. Dann habe ich die Wunden mit Handtüchern abgebunden.«
    Racine starrte ihre Hände an, als sähe sie das Blut noch, auch wenn es nicht mehr dort war. Maggie verstand, was für ein großer Schock es sein musste, wenn man die Person kannte. Wenn ihr Blut noch warm auf die eigene Haut und die Kleidung rann. Racine und sie hatten unzählige blutige Tatorte gesehen, und dennoch bereitete einen nichts darauf vor, jemanden zu finden, den man kannte – einen Kollegen, einen Freund, einen Angehörigen. Nichts wappnete einen gegen diesen Moment kompletter Hilflosigkeit.
    »Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal fand«, sagte Maggie. Sie stützte ihr Kinn auf die Hände, denn ihr pochender Kopf fühlte sich zu schwer an. »Sie hatte gerade eine Ladung Tabletten genommen und sie mit Wodka runtergespült. Ich wusste nicht, was mit ihr los war. Sie lag bewusstlos auf ihrem Bett, ihr Gesicht war voll eingetrocknetem Erbrochenen. Im Nachhinein wundert es mich, dass ich überhaupt in der Lage war, den Notruf zu wählen.«
    Es fehlte nicht viel, und schon hätte sie jenen Abend so klar vor Augen, als wäre es letzte Woche gewesen. Das konnte Maggie jetzt nicht gebrauchen. Ebenso wenig woll te sie Racine alle Einzelheiten erzählen. Zum Beispiel, dass es nicht der erste Versuch ihrer Mutter und sie nicht allein gewesen war. Einer ihrer »Freunde« rannte Maggie fast über den Haufen, so eilig hatte er es gehabt, aus der Wohnung zu kommen. Er hatte weder den Notruf gewählt noch einen Gedanken an die Tatsache ver schwen det, dass Maggie erst vierzehn war. Manche Dinge ließ man lieber in den dunklen Nischen seines Bewusstseins, wo sie hingehörten.
    Sämtliche Therapeuten ihrer Mutter – und es waren unzählige gewesen – sagten, es wäre ein Schrei nach Hilfe oder Aufmerksamkeit. Dass Kathleen sich eigentlich nicht umbringen wollte. Maggie war anderer Meinung. Ihre Mutter war nicht auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Sie wollte sich selbst bestrafen.
    Es hatte Jahre gedauert, bis Maggie es begriffen hatte, denn lange Zeit war sie der Meinung gewesen, ihre Mut ter wollte sie bestrafen. Und egal welchen Grund oder welche Ausrede man für Kathleen O’Dells Suizidver suche bemühte, für Maggie stand fest, dass ihre Mutter es eines Tages wohl aus Versehen schaffen würde, sich umzu bringen.
    Maggie atmete tief ein und lehnte sich zurück. Sie musste dringend das Thema wechseln.
    »Wie geht es deinem Dad?«, fragte sie, womit sie leider doch irgendwie beim Thema blieb. Denn so wie Racine Maggies Mutter vor der Selbstzerstörung gerettet hatte, hatte Maggie einst Luc Racine vor einem Serienmörder gerettet. Sie dachte oft an den freundlichen, sanftmütigen Mann, wagte jedoch meist nicht, nach ihm zu fragen, denn bei Alzheimerkranken gab es bekanntlich selten gute Nachrichten.
    »Er vergisst immer öfter meinen Namen.« Racine verschränkte die Arme und sank neben Maggie noch tiefer ins Sofa.
    »Das ist die Krankheit. Du darfst es nicht persönlich nehmen«, sagte Maggie, die bereits bereute, auf Racines Kosten das Thema gewechselt zu haben.
    »Wie der blöde Hund heißt, vergisst er nie.«
    Maggie sagte nichts. Stattdessen legte sie ihren Arm um Racine und drückte sie. Racine erschlaffte merklich und rutschte weiter nach unten, bis ihr Kopf an Maggies Schulter lag. Endlich entspannte sie sich ein bisschen.
    Seite an Seite saßen sie da, schwiegen und lauschten dem Piepen der Überwachungsgeräte von der Intensivstation.
    »Willst du vielleicht Ben anrufen?«, fragte Racine nach einer Weile leise.
    »Ich weiß nicht, wie es mit Ben weitergehen soll.« Maggie war ein bisschen überrascht, dass sie es so offen aussprach. Über ihr Privatleben redete sie nur mit zwei Menschen: Ben und Gwen Patterson. Julia Racine war noch nicht mal eine mögliche Kandidatin für diese Liste, doch momentan war Maggie viel zu groggy, als dass es sie kümmerte. »Ben will Kinder.«
    »Bloß weil seine Ex wieder eine Familie gegründet hat.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Racine kannte Bens Ex. Maggie zuckte mit den Schultern, obwohl Racine es nicht sehen konnte. »Willst du keine Kinder?«
    »Ich sehe mich nicht als Mutter.«
    »Geht mir genauso«, sagte Racine. »Rachel meint, es kommt daher, dass ich nie die Chance hatte,
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