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Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)

Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)
Autoren: Louis Begley
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einen wichtigen De Bourgh gegeben hatte. Gezwungenermaßen wurde ich dann aber vertraut mit der Legende. Es war einfach unmöglich, mit Lucy Zeit zu verbringen, ohne von James De Bourgh und seinen Zeitgenossen und Konkurrenten in Rhode Island, den weitaus bekannteren Brüdern John und Moses Brown, zu hören. Sie schimpfte über die Verschwendung des Familienvermögens, die James’ unfähige Nachfahren – ihr eigener Vater eingeschlossen – zu verantworten hatten, und sie schimpfte auf die amerikanische Handelspolitik, die schuld gewesen sei an dem Zusammenbruch der Textilfabriken New Englands nach 1920, den ihr Großvater und seine Brüder nicht vorausgesehen hatten, aber soweit sie betroffen war, hatte sich der Glanz der Familienicht getrübt. Außerdem ist »kein Hemd mehr auf dem Leibe haben« relativ, sagte sie immer. Alles hängt davon ab, wie viele man im Schrank hat. Unser Vorrat reicht noch lange.
    Nach dem Ende ihres Praktikums bot ihr die Zeitschrift eine Stelle als Juniorredakteurin in New York an; zu meinem Erstaunen lehnte sie das Angebot ab. In New York zu leben, sei nichts für sie, sagte sie. Stattdessen fuhr sie im Sommer nach Hause, um, wie sie sagte, mal wieder ein paar gute Tennisspiele zu machen, und im Herbst kam sie zurück nach Paris in ihr Apartment und zu ihren Dinnerpartys. Als wir am Ende eines solchen Abends noch einen Abschiedsschluck tranken, fragte ich sie, was sie jetzt, da sie wieder in Paris sei, eigentlich vorhabe.
    Leben! antwortete sie kühn. Leben wagen!
    Im Lauf späterer Unterhaltungen erklärte sie mir dieses Konzept näher. War sie nicht die Erbin aller Zeiten, war sie nicht verpflichtet, alle Vorteile ihrer Bildung voll auszukosten – sie hatte eine absurd hohe Meinung von ihrem Radcliffe-Examen in romanischen Sprachen und Literatur – und vor allem ihre Freiheit? Treuhandfonds ihrer Familie, die zwar längst nicht mehr so üppig waren wie einst, erlaubten ihr doch, so weiterzumachen wie bisher. Warum einen Job annehmen, den sie weder unbedingt wollte noch brauchte und den sie womöglich jemandem wegnahm, der darauf angewiesen war?
    Darauf wusste ich nichts zu sagen als »natürlich«, obwohl ich mich fragte, wie gründlich sie über das Schicksal der im Ausland lebenden Damen des neunzehnten Jahrhunderts nachgedacht hatte, die sie sich vielleicht bewusst oder auch nicht zum Vorbild genommen hatte.Aber es ging mich ja nichts an. Lucy und ich kamen gut miteinander aus, und dass sie in Paris war, ihre Partys und gelegentlich anspruchsvollere Unternehmungen organisierte, war angenehm für mich. Zum Beispiel fuhr sie mit mir und einem Ehepaar aus Providence, das seine Flitterwochen in Frankreich verbrachte, nach Chartres. Ohne Punkt und Komma über die Architektur der Kathedrale und Henry Adams’ Chartres-Buch redend, bretterte sie über die dreispurige route nationale , die vom Schattenspiel der Platanenreihen zu beiden Seiten in einen flimmernden Strom verwandelt schien, und ihr viertüriges Mercedes Cabrio ließ die deux chevaux der weniger gut gestellten Franzosen und die von der französischen Bourgeoisie und Regierungsbeamten bevorzugten großen glänzenden Citroëns in einer Staubwolke hinter sich, bis uns die Gendarmen an einer Radarfalle etwa dreißig Kilometer vor unserem Ziel anhielten. Sie waren höflich, und Lucy war höflich, aber als wir weiterfuhren, hatte sie, wie sie sagte, einigen Schwung verloren. Doch das galt nur für den Morgen. Nachmittags war sie wieder in Hochform, und die Rückfahrt nach Paris wurde noch haarstäubender. Ihre Theorie war, dass die Bullen niemals jemanden zweimal auf derselben Straße anhielten. Außerdem hatte sie eine Verabredung zum Dinner, und sie wollte nicht zu spät kommen.
    Vor der zweiten Pause kam mir in den Sinn, dass ich genug Erinnerungen auf Lager und lebende Gespenster – ehemalige Personen nannte ich sie – um mich herum hatte, Freunde aus der Schule und dem College, Leute, mit denen ich für die eine oder andere Zeitung gearbeitet hatte, auch meinen Literaturagenten, dem ich immer treu geblieben war, und dass ich nicht auch noch Lucybrauchte. Vielleicht sollte ich in der Pause einfach auf meinem Platz sitzen bleiben. Oder ich konnte mir den dritten Teil des Programms schenken, ein Balanchine-Ballett, das ich schon oft genug gesehen hatte, das Theater verlassen und direkt zum Essen gehen. Das Gewissen eines Ballettomanen war stärker. Es gab keinen guten Grund, Lucy aus dem Weg zu gehen, und bestimmt keinen,
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